: Sitzenbleiben ist echt doof
Aber nicht nur für die Schüler. Die internationale Schulforschung zeigt: Die „Ehrenrunde“ ist pädagogisch völlig unsinnig
von CHRISTIAN FÜLLER
Kann ein ganzes Land sitzen bleiben? Es kann. Als die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) vergangenes Jahr seinen ersten internationalen Schülervergleich Pisa veröffentlichte, galten unter anderen Deutschland und Mexiko als stark versetzungsgefährdet. Pisa wirkte wie ein Zwischenzeugnis mit drei Fünfen.
Mexiko hat sich selbst seitdem Nachhilfe verordnet und zum Beispiel eine nationale Reformagentur gegründet. „Es gibt dort sichtbare Anzeichen dafür, dass man auf schlechte Bildungsergebnisse reagieren kann“, lobt Andreas Schleicher den Ehrgeiz der Mittelamerikaner.
Andreas Schleicher ist der Bildungsstatistiker der OECD. Er kam vogestern nach Berlin, um die Ergebnisse vorzustellen, die Deutschland im jüngsten OECD-Vergleich „Bildung auf einen Blick“ erzielte. Als Schleicher dabei gefragt wurde, wie es denn mit dem Reformeifer Deutschlands aussehe, räusperte er sich. Am wichtigsten sei doch, wich Schleicher aus, was sich in fünf Jahren getan habe. Dann schwieg er höflich.
Die deutschen Ergebnisse bei „Bildung auf einen Blick“, einem Vergleich von Kindergärten, Schulen und Hochschulen in 29 Ländern, können die Nation der Dichter und Denker in der Tat schweigsam machen:
Der OECD-Forscher Schleicher und seine Kollegen konstatieren, dass der Anteil der Studenten an einem Jahrgang seit 20 Jahren praktisch stillsteht – während Staaten wie Korea ihre Studierendenzahlen dramatisch steigern. Die Bilanz der vergangenen fünf Jahre sieht so aus: alle OECD-Länder plus 24 Prozent Hochschüler, Deutschland minus 5 Prozent, Korea plus 50 Prozent.
Die Weiterbildung Erwachsener, eigentlich dazu da, Bildungs- und Qualifikationsrückstände aufzuholen, vertieft in Deutschland die Unterschiede zwischen Ungelernten und Hochgebildeten weiter. An den Fortbildungskursen nehmen hier nämlich vor allem Akademiker teil.
Auch bei den Ausgaben für Bildung, die der Wirtschaftsorganisation OECD traditionell am wichtigsten sind, ist Deutschland kein Vorreiter. Die Investitionen in die Köpfe sind hierzulande mit einem Anteil von 9,7 Prozent deutlich geringer als die durchschittlich 12,7 Prozent der anderen Staaten. Die Forscher bemängeln aber vor allem, dass Deutschland dort wenig Geld ausgibt, wo es am wichtigsten ist: In Grundschulen. Jeder ABC-Schütze kostet hierzulande 3.800 Dollar. Österreich und Schweden geben 5.000 Dollar aus. „Hier herrscht eine mangelnde Dynamik beim Ausbau des Bildungssystems“, lautet das wenig schmeichelhafte Urteil Schleichers über sein Heimatland.
Deutschland ist aber nicht nur im übertragenen Sinne ein Sitzenbleiber. Die Zahl der Schüler, die schulische Misserfolge erleben, ist nirgends höher als in Deutschland. Anderswo gibt es wegen des anderen Schulsystems das Phänomen Sitzenbleiben gar nicht. 40 Prozent der jungen Deutschen aber müssen mit schulischem Scheitern fertig werden: Rund ein Viertel, weil sie eine Klasse wiederholen. Jeweils rund zehn Prozent der Schüler, weil sie bei der Einschulung zurückgestellt werden oder so genannte Schulabsteiger sind – das heißt: Sie werden von einer „höheren“ Schulform wieder in die Hauptschule zurückgestuft.
Für die OECD-Bildungsexperten ist das das eigentliche Problem deutscher Schulen. Internationale Schulforschung und die Ländervergleiche zeigten, so Andreas Schleicher, „dass Sitzenbleiben nichts bringt – es kostet nur Geld“. Auch pädagogisch sei es unsinnig. Klassenwiederholer müssten alle Fächer wiederholen, obwohl sie möglicherweise nur in zwei oder drei Disziplinen Lernrückstände hätten. Und dann wird der kühle Statistiker richtig wütend. „In anderen Ländern gibt es Sitzenbleiben nicht mal als Konzept. Dort weiß jeder Lehrer: ‚Ich muss mit den Schülern arbeiten, die ich habe.‘ “
Das deutsche Schulwesen hingegen ist ohne Sitzenbleiben nicht denkbar. Wer Schüler in verschiedene Schulformen nach Begabung sortieren will, muss die Zöglinge notfalls auch durch Rückstufung sanktionieren. Ein Umdenken fällt den Gralshütern der Schule, den Bildungsministern der Länder, naturgemäß schwer. Immerhin signalisierte die stellvertretende Präsidentin der Kultusministerkonferenz Zweifel am Sitzenbleiben – wenn auch auf eigentümliche Art. Karin Wolff (CDU), die hauptamtliche Kultusministerin in Hessen ist, gestand ein, dass Klassenwiederholungen bei sehr schlechten Schülern keinen Sinn machten – sonst blieben die ja quasi im Schulsystem stecken. „Stellen Sie sich vor, Sie lassen einen in der achten Klasse zum wiederholten Male sitzen. Was sollen die Lehrer denn mit dem machen?“, fragte Wolff bei der Vorstellung der Studie „Bildung auf einen Blick“.
Der OECD-Mann Schleicher mochte da gar nicht mehr hinhören. Seine Organisation ist längst auf einem anderen Trip. Sie interessiert sich nicht für die Kosten des Versagens, sondern für den „return on investment“, auf gut deutsch: Erstmals errechneten die OECDler den zählbaren Ertrag von Bildungserfolg. Dazu zählt: Ein wesentlich geringeres Risiko der Arbeitslosigkeit – bei Akademikern 3,4 Prozent, bei Personen ohne Schulabschluss 15,6 Prozent. Zudem sind aber für Gebildete auch die Chancen auf ein hohes Einkommen größer. Hochschulabsolventen zum Beispiel haben ein um 60 Prozent höheres Einkommen als Schulabgänger einer zehnten Klasse.
Bundsbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) zog aus „Bildung auf einen Blick“ den Schluss: „Wir brauchen deutlich mehr Hochschulabsolventen.“ Ihre Kollegin aus Hessen, Karin Wolff, mäkelte, es gehe hier nicht um „irgendwelche Quoten von Hochschülern“. Aber immerhin, so Wolff: „Eine Steigerung der Studierendenzahlen wäre mir durchaus nicht unangenehm.“
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