: Die Rollen sitzen schon
Ernste Regierung, fröhliche Opposition: Die gestrige Bundestagsdebatte bot einen Ausblick auf die nächsten vier Jahre
aus Berlin BETTINA GAUS
Der Kanzler sprach gerade über Klimaschutz, als er sich plötzlich abrupt am Rednerpult des Bundestages umdrehte: „Kann ich Ihnen helfen, meine Damen und Herren?“, fragte er höflich. Kurze Verblüffung im Saal – und dann schadenfrohes Gelächter, während die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen dastanden wie begossene Pudel. So elegant hatte sich noch niemand darüber beschwert, dass sie mit dem Präsidium des Parlaments allzu laut über Fragen der Geschäftsordnung verhandelten und damit die Konzentration des Redners störten.
Der souveräne kleine Scherz blieb allerdings fast die einzige Pointe, die sich Gerhard Schröder bei der ersten Regierungserklärung seiner zweiten Amtszeit gönnte. Trocken und nüchtern umriss der Kanzler sein Konzept für die nächsten vier Jahre. Die Mitglieder seines Kabinetts verzogen unterdessen fast keine Miene. Kollektiv schienen sie sich um einen ganz besonders würdigen Gesichtsausdruck bemühen zu wollen – dem Ernst der Stunde angemessen. Das sollte die Runde allerdings noch ein wenig üben. Die meisten sahen eher griesgrämig als erhaben aus.
Ganz anders die Opposition. Die gab sich schon vor Beginn der Sitzung betont munter. Ganz zart umfasste der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle den Arm seiner CDU-Kollegin Angela Merkel, gerade lange genug, damit das schöne Bild der Eintracht auch noch dem letzten Fotografen auffallen musste. Nett plaudernd gesellten sich sodann Friedrich Merz, Wolfgang Gerhardt und Michael Glos zu den beiden. Wer von den Diadochenkämpfen der Vergangenheit noch nie etwas gehört hat, musste glauben, diese Leute seien einander alle besonders herzlich zugetan.
Die ernste Regierung und die fröhliche Opposition: Die jeweiligen Rollen wurden konsequent durchgehalten. Hat Gerhard Schröder jemals gesagt, Regieren mache Spaß? Davon war ihm zumindest gestern nichts anzumerken. Langweilig sei seine Rede gewesen, allzu kleinteilig und uninspiriert, befanden hinterher zahlreiche Beobachter in den Wandelgängen des Parlaments, und tatsächlich hätten vermutlich nicht einmal engste Freude oder seine loyale Ehefrau den Vortragsstil des Kanzlers als mitreißend bezeichnet.
Ob er das bedauern würde? Vieles spricht dafür, dass Schröder, dessen rhetorisches Talent ohnehin nicht zu seinen größten Gaben gehört, aus der Not eine Tugend gemacht hat und durchaus absichtsvoll alles vermied, was ihm als charmante Dampfplauderei hätte ausgelegt werden können. Denn was er zu sagen hatte, verträgt sich schlecht mit optimistischem Frohsinn: Er verkündete den Abschied vom Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn heute kennen. Einige seiner Regelungen seien „zur Disposition zu stellen“, manches aus der Bismarckzeit oder aus den letzten Jahrzehnten „hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Begründung verloren“.
Indirekt räumte der Bundeskanzler ein, dass wohl zunächst nicht mit einer Rückkehr der fetten Jahre zu rechnen sein wird: Mehr Wachstum und mehr Produktion bedeute nicht automatisch auch mehr Lebensqualität. „Mehr als auf die Verteilung knapper werdender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Verteilung der Chancen an. Unsere Generation steht vor der historischen Aufgabe, Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definieren und zu erreichen.“ Schröder warb um Verständnis, „dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen auch einmal langsamer treten muss, dass auf das erreichte Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann“.
Wumm. Der Öffentlichkeit ist es zwar keineswegs neu, dass politisches Handeln längst vor allem in der möglichst klugen Verwaltung von Mangel besteht. Aber diese Erkenntnis einmal ehrlich und öffentlich von einem amtierenden Regierungschef zu hören, das gleicht einer Sensation. Hätte Schröder bei anderen Themen vergleichbar großen Mut bewiesen – seine Regierungserklärung wäre eine große und bedeutende Rede geworden. Nicht etwa deshalb, weil alle seine Analysen notwendigerweise für richtig gehalten werden müssten. Sondern deshalb, weil endlich definiert worden wäre, um welche grundsätzlichen Fragen es in der politischen Auseinandersetzung heute geht.
Allerdings hat der Mut über diese Sätze hinaus nicht gereicht. Die „große Reform der Arbeitsmärkte“, die Schröder die „vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislaturperiode“ nannte, wird immer noch als „Eröffnung neuer Chancen“ und eben nicht als möglichst effiziente Mangelverwaltung bezeichnet – gerade so, als gebe es noch irgendjemanden im Deutschen Bundestag, der an die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung glaubt. Mit Gelächter quittierte die Opposition die Ankündigungen, die Politik der Steuersenkungen werde „fortgesetzt“, der europäische Stabilitätspakt stehe nicht zur Disposition, und die Regierung wolle bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt erreichen.
Als Schröder sich darum bemühte, die „zentrale Botschaft“ zu benennen, die „auch Maxime der vor uns liegenden Regierungsjahre sein muss“, da wurde er ziemlich lyrisch: „Hören wir auf, immer nur zu fragen, was nicht geht. Fragen wir uns, was jeder und jede Einzelne von uns dazu beitragen kann, dass es geht!“ Eine Steilvorlage für Angela Merkel. Als „Kennedy-Verschnitt aus Hannover“ bezeichnete sie den Kanzler und fragte höhnisch: „Was ist – es?“ Die Unionsfraktion war begeistert. Ihre neue starke Frau legte gleich noch einmal nach: „Was ist – es?“ Tosender Jubel.
Unterschiedlicher können zwei Reden kaum ausfallen als die von Gerhard Schröder und von Angela Merkel. Etwas aber haben beide gemeinsam: Die Vortragenden haben deutlich gemacht, dass sie ihre jeweiligen Rollen kennen – und auszufüllen bereit sind. Der Bundeskanzler sprach als Akteur, dessen Aufgabe es ist, der Öffentlichkeit seine Absichten mitzuteilen. Die Opposition möchte er nicht wichtig genug nehmen, um in einer Grundsatzrede viel Zeit auf Attacken gegen sie zu verschwenden. Die neue Oppositionsführerin entwickelte hingegen kein eigenes Programm, sondern beschränkte sich darauf, Schwächen der Regierung anzuprangern. Sie habe keine alternativen Vorstellungen entwickelt, warf Außenminister Joschka Fischer der neuen Fraktionsvorsitzenden später vor. Das betrachtet Angela Merkel in dieser Situation offenbar auch nicht als ihren Job.
Stattdessen richtete sie ungewöhnlich scharfe Angriffe gegen die rot-grüne Koalition und schreckte dabei auch nicht vor Kalauern zurück: „Sie sind keine Regierung der Erneuerung, Sie sind eine Regierung der Verteuerung.“ Der Bruch von Versprechungen sei „unanständig“, die Menschen komme die Wahl „teuer zu stehen“, der Koalitionsvertrag sei ein Dokument der „Enttäuschung, der Täuschung und der Vertuschung“. Ebenso wie später der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle machte Merkel deutlich, dass sie nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen weitere Steuererhöhungen erwartet.
Die Irakpolitik der Bundesregierung nannte die CDU-Vorsitzende den „größten Betrug an Wählern in der Nachkriegsgeschichte“, obwohl Schröder gestern noch einmal betonte, dass sich die Bundesregierung nicht an einer Militäraktion gegen das Land beteiligen wolle. Angela Merkel erklärte jedoch viele Fragen in diesem Zusammenhang für weiterhin ungeklärt – und sie verwies darauf, dass im Koalitionsvertrag das Thema sorgsam ausgespart worden ist: „Ich vermute, Sie hatten wenigstens den Außenminister davor, der Sie daran gehindert hat, Ihre Lügen in Schriftform zu fassen“, sagte sie an die Adresse von Gerhard Schröder.
Aus Sicht der Union hat die Fraktionsvorsitzende ihre erste Bewährungsprobe offenbar erfolgreich bestanden. Die Regierungserklärung des Kanzlers bereitete hingegen das rot-grüne Lager vor allem darauf vor, dass die nächsten Jahre nicht einfach werden dürften. Nun kann der parlamentarische Alltag beginnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen