Nicht alle Wege führen nach Harburg

Im Prozess um die Anschläge des 11. September auf das World Trade Center wird immer fraglicher, ob sie tatsächlich in Harburg vorbereitet worden sind. Viele Spuren im Verfahren gegen Mounir el Motassadeq weisen in Richtung Afghanistan

Von Bedeutung, weil die Anschläge womöglich gar nicht in Harburg, sondern in Afghanistan vorbereitet worden sind.

von ELKE SPANNER

Unauffällig zu sein, war Teil ihres Planes. Nicht aus der Reihe zu tanzen, nirgends anzuecken und eine gute Ausrede zu haben, wenn es dann doch einmal einen Riss in der Fassade gab. Ramzi Binalshibh beispielsweise erklärte Bekannten, er würde in seiner Heimat, dem Jemen, eine Frau zum Heiraten suchen, wenn er wieder mehrere Wochen in einem militärischen Ausbildungslager in Afghanistan war. Mohammed Atta wollte angeblich im Ausland für seine Diplomarbeit recherchieren, als auch er sich an Waffen ausbilden ließ.

Nach außen hin waren die Harburger Kommilitonen nur ein loser Freundeskreis. Hinter dieser Fassade bildeten sie eine Terrorgruppe, eine laut Bundesanwaltschaft „nach außen abgeschottete, konspirativ arbeitende Organisationseinheit unter Führung von Mohammed Atta“. Und wer mit bei den Attentätern am Küchentisch saß, so die Überzeugung der BAW, war auch Mitglied der „Harburger Zelle“, die durch die Anschläge des 11. September in die Geschichte eingegangen ist. Seit dem 22. Oktober verhandelt deshalb das Hamburgische Oberlandesgericht gegen den Sudanesen Mounir El Motassadeq. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum Mord in 3045 Fällen.

Die BAW geht in ihrer Anklage davon aus, dass die Anschläge von New York und Washington in Hamburg-Harburg vorbereitet worden sind. Die späteren Attentäter haben sich danach spätestens im Jahr 1999 an der Technischen Universität oder beim Beten in einer Moschee kennen gelernt. Regelmäßig haben sie sich getroffen, zunächst in der Moschee, dann immer öfter auch privat in den Wohngemeinschaften oder Studentenwohnheimen, in denen die einzelnen Attentäter lebten. Dort gab es hitzige Diskussionen. Thema waren die Regeln des Islam und der Nahost-Konflikt. Über die Parteinahme für die Palästinenser habe sich die Gruppe immer mehr radikalisiert und in Antisemitismus und einen Hass auf den Westen hineingesteigert. Vor allem die USA wurden im Laufe der Jahre zum Hauptfeind der arabischen Welt und damit auch der in Harburg versammelten muslimischen Kommilitonen erklärt. Bei ihnen sei darüber schließlich die Idee geboren, einen Anschlag zu begehen und die USA ins Mark zu treffen.

Als zentrale Figur wird Mohammed Atta angesehen. In der Tat wird der von Zeugen als die Autorität in der Gruppe beschrieben. Atta, sagten frühere Freunde aus, war streng. Sein ehemaliger Studienkollege Achmed M. fand Atta extrem religiös, rechthaberisch und humorlos. Er habe innerhalb der Gruppe immer auf die Einhaltung religiöser Regeln gepocht und es missbilligt, wenn ein Moslem beispielsweise in kurzen Hosen über die Straße lief. Atta, sagte Achmed M., verstand keinen Spaß. Vielen war er zu verbissen, aber sie respektierten ihn, weil er am meisten Kenntnis über den Islam hatte. Laut Anklage ist er die treibende Kraft gewesen, die die Gruppe zu immer stärkerer Radikalität und schließlich zu den Terroranschlägen geführt hat – auch Motassadeq. Um dessen Wissen von den Attentatsplänen zu belegen, versucht das Oberlandesgericht aus seinen Bekannten Erinnerungen an Äußerungen des Angeklagten zu pressen, die oft Jahre zurückliegen und jetzt im Rückblick völlig neu bewertet werden.

Der bisherige Verlauf des Prozesses aber hat Fragen an der BAW-Version aufgeworfen, nach der die Harburger Zelle autonom gehandelt und in Attas Wohngemeinschaft in der Marienstraße die Anschläge vorbereitet hat. Längst ist nicht mehr klar, dass die Schlüsselfigur tatsächlich Mohammed Atta hieß. Das galt sicherlich für die Hierarchie innerhalb der Harburger Zelle. Die aber soll für das al-Qaida-Netzwerk um Osama Bin Laden tätig geworden sein – und der Mittelsmann zu Bin Laden war Ramzi Binalshibh. Immer mehr deutet darauf hin, dass die Rolle des Jemeniten, der im September in Pakistan verhaftet wurde und in den USA in Gewahrsam der Sicherheitsbehörden ist, für die Vorbereitung der Anschläge maßgebend war.

Binalshibh reiste immer wieder zwischen Hamburg und Afghanistan hin und her. Ein ehemaliger Leibwächter des al-Qaida-Kopfes, Shahid A., hat vor dem Hamburger Landgericht gesagt, dass Binalshibh Bin Laden sehr nahe stand und bei seinen Aufenthalten im Ausbildungscamp im Wohnkomplex Bin Ladens untergebracht war. Binalshibh, so Shahid A., „war Mitglied der Führungsspitze“. Diese Information könnte deshalb für den Hamburger Prozess von Bedeutung sein, weil die Anschläge möglicherweise gar nicht in Harburg, sondern in Afghanistan vorbereitet worden sind. Auch die späteren Attentäter waren allesamt irgendwann in Kandahar. Womöglich haben sie sich dort ihre Anweisungen abgeholt. Wurde die Durchführung der Anschläge aber nicht am Küchentisch Attas in der Harburger Marienstraße besprochen, sondern in einem Ausbildungslager bei Kandahar, ist für die BAW noch schwerer nachzuweisen, dass Motassadeq davon in Kenntnis gesetzt worden war.

Für diese Version spricht zweierlei. Der ehemalige Bin Laden-Leibwächter hat ausgesagt, dass an den Anschlägen islamistischer Gruppen wie al-Tawhid oder auch al-Qaida drei „Zellen“ beteiligt sind: Die Anführer wie Bin Laden bestimmen das Ziel und die Form des Attentates. Eine zweite Gruppe bereitet dieses vor, eine dritte vor Ort führt es dann aus. Demnach hätten die Todesflieger um Atta nicht autonom gehandelt, sondern Anweisungen der al-Qaida-Spitze ausgeführt. Und: Der Angeklagte Motassadeq soll für die finanzielle Ausrüstung der Harburger Zelle zuständig gewesen sein. Ein FBI-Beamter hingegen sagte vor Gericht, dass die Spur des Geldes nicht nach Hambrug, sondern in die Vereinigten Arabischen Emirate führt.

Für eine Verurteilung Motassadeqs müsste das Oberlandesgericht dem Sudanesen dann nachweisen, dass er Kenntnis von den Plänen hatte, die in Afghanistan vorbereitet worden sind. Dafür spricht wohl, dass auch Motassadeq zur militärischen Ausbildung in Afghanistan war. Das Gericht versucht über die Befragung von Zeugen herauszufinden, was genau sich dort abspielt; wer in welches Camp kommt und wie die Kommunikation unter den dortigen Islamisten ist. Gelingt der BAW der Nachweis, dass im Lager bei Kandahar über die Attentatspläne gesprochen wurde und auch Motassadeq in diese Gespräche eingebunden war, wird es eng für den Angeklagten. Tatsächlich hat Shahid A. zu Protokoll gegeben, dass unter den Kämpfern im Frühjahr 2001 bekannt gewesen sei, dass ein Schlag gegen die USA geplant sei, der diese „an der Wirbelsäule trifft“. Es sollte „tausende Tote geben“. Einerseits. Andererseits sei nicht bekannt gewesen, was die Al Quaida vorbereitete und wann es stattfinden sollte. Das, sagte Shahid A. vor Gericht, habe man selbst ihm als Leibwächter Bin Ladens nicht anvertraut.