taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Neu-Jerusalem ist in Staaken
Auf den Spuren seiner Kindheit erkundet unser Autor gemeinsam mit einem Denkmalschützer eine ganz besondere Siedlung im Westen Spandaus.
Staaken ist ein Stück Berlin, wohin es BewohnerInnen der Innenstadtbezirke selten verschlägt. Selbst schuld. Denn man könnte Neues entdecken, das – okay, zugegeben – Altes ist. Aber der Reihe nach.
Obwohl von Geburt Mecklenburger, kenne ich Staaken seit Kindertagen. Die Schwester meiner Mutter zog samt Familie im November 1969 dorthin. Meine Tante lebt bis heute dort – ich sage immer scherzhaft: in der letzten Straße Berlins, sie heißt tatsächlich „An der Spitze“. Hier läuft alles auf Brandenburg zu, das nur ein paar Schritte weiter beginnt.
Der historische Teil Staakens um das alte Dorf, erstmals 1273 urkundlich erwähnt, mit seiner kleinen Kirche ist im Norden und Süden durch Einfamilienhaussiedlungen und die sogenannte Gartenstadt geprägt. Der östliche Teil und auch Neu-Staaken besteht überwiegend aus Großsiedlungen à la westdeutsche Platte – das lässt sich sehr schön (na ja: schön) bei der Hinfahrt mit dem Bus studieren. Der M49er fährt vom S-Bahnhof ICC/Messe Nord gefühlt ewig (es sind rund 25 Minuten) die Heerstraße entlang, Hochhaus folgt auf Hochhaus.
In den Sommerferien besuchte ich ein paar Mal als Kind meine Tante. Man ging natürlich spazieren. Der Radius war klein. Das Staaken meine Kindertage war in den 1970ern und 1980ern ein Dorf für sich und gehörte zum Bezirk Potsdam, also zur DDR. Ironie der Geschichte: Der Ostteil Staakens gehörte bis zum Mauerfall zu Spandau und damit zu West-Berlin. Einmal sind wir mit der S-Bahn zum Alexanderplatz gefahren, ein weiter Weg: Wir mussten ganz West-Berlin umfahren; mitten durch die West-City ging ja nicht.
„So hat doch nicht die DDR gebaut“
Bei den Spaziergängen damals sind mir stets die vielen zweistöckigen Doppelhäuser – in meiner Erinnerung waren sie weiß – aufgefallen, die alle gleich aussahen. Sie standen entlang der Heerstraße, die damals als Transitstrecke West-Berlin und Hamburg verband; ein paar Hundert Meter weiter befand sich der Grenzübergang. Die seltsamen Häuser mit den großen Gärten aber konnte man umrunden und begutachten: Sie sahen merkwürdig kastenförmig aus – kubisch eben – und ganz anders als alles andere, was ich kannte. So hat doch nicht die DDR gebaut, dachte ich damals.
Dann sah ich Tante und Staaken länger nicht wieder. Die DDR ging zu Ende. Ich zog 1992 des Studiums wegen nach Berlin und besuchte ein paar Jahre später wieder meine Verwandten in West-Staaken (das nach 40 Jahre Osten nun zum Westen gehörte). Die Häuser standen immer noch da, waren schrecklich grau und sahen oft ziemlich heruntergekommen aus. In der Summe ein trauriger Anblick von – sagen wir – morbidem Charme.
Dass es sich hier um etwas historisch Besonderes handelt, um ein Baudenkmal, wurde mir erst bewusst, als vor gar nicht allzu langer Zeit die ersten Häuser der Siedlung plötzlich saniert wurden und mit frischer Farbe dastanden. In Weiß und – Rot! Rot? Das warf Fragen auf. Tante und Onkel hatten für diese Farbwahl keine schlüssige Antwort. Gut, dass es diese Sommerserie gibt.
Leider kann man keins der Häuser besichtigen. Dabei wäre genau die Innenansicht eines solchen Baudenkmals erstens erhellend. Und zweitens wäre – aber das ist nur ein persönlicher Wunsch – ein kleines Museum mit Daten und Fakten und historischen Fotos aus den letzten 100 Jahren in so einer Haushälfte – einfach genial.
Eine Haushälfte hat sich ein Architekt, der unbenannt bleiben möchte, gekauft und viel Liebe und Fachwissen hineingesteckt, um sie so gut wie möglich zu restaurieren. Diese Haushälfte steht leer, man kann sie mieten. Für die taz gibt es eine kleine Führung, das aber ist für die Allgemeinheit leider nicht möglich.
Die Schlüssel klimpern sachte in seiner Hand, eine gewisse Vorfreude ist Dr. Dieter Nellessen anzumerken, als er die Tür zur Heerstraße 653 B aufschließt. Der Besitzer war so freundlich, uns ohne sein Beisein ins Haus zu lassen. „Das hier ist originalgetreu restauriert“, sagt Nellessen quasi als Ouvertüre seiner Erläuterungen. Er arbeitet seit 25 Jahren als Leiter der Untereren Denkmalschutzbehörde von Spandau und hat den Prozess der Baudenkmal-Werdung begleitet. Es ist zu spüren: Nellessen liegt etwas an dieser Siedlung, die den Namen Neu-Jerusalem trägt.
Warum die Siedlung so heißt, weiß weder Nellessen noch Wikipedia oder sonst wer. Der oberste Denkmalpfleger Spandaus kann sich aber vorstellen, „dass es mit den kubischen Baukörpern ohne sichtbares Dach zu tun hat. Diese Art des Bauens kannte man bis dahin nur aus Nordafrika.“
Erinnerung an Israel
Früher stellte sich die Frage nicht. Zu DDR-Zeiten wurde die Siedlung gar nicht benannt, stand einfach nur da. Erst nach der Wende kam der alte Name wieder auf. Und ich dachte, na klar, das passt: In Israel gibt es so viele weiße Häuser im Bauhausstil.
Innen findet sich die kubische Bauweise des Äußeren wieder, klar. Allein das Treppenhaus – dunkelgrünes Linoleum (neu), weiß lackiertes Holzgeländer mit schwarzem Handlauf (alt) – ist eine Wucht. „Im Inneren haben wir den Besitzern relativ freie Hand gelassen“, sagt Nellessen und verweist auf die unerwartete Großzügigkeit im unteren Geschoss.
Hier fehlt eine Wand, die es früher mal gab, zum Raum dazu kam ein Anbau, der allen Besitzern zugestanden wird. Viele der Anbauten stammen aus DDR-Zeiten: „Solche baulichen Veränderungen genießen Bestandsschutz.“ Und das Fenster zum Garten ist bodentief und viel breiter als die anderen originalen, eher kleinen Holzfenster (mit aufgearbeiteten originalen Griffen). Die moderne Küche befindet sich heute an anderer Stelle als einst vorgesehen. „Das Kubische prägt die Siedlung und macht das neue Bauen aus“, erklärt Nellessen, „da ist relativ egal, wie es im Innern aussieht.“
Eine Etage höher gibt es zwei separate Zimmer, wieder gleich groß und geschnitten, und ein modernes, neu eingebautes Bad, das sich vom Stil her gut einfügt – dasselbe oben noch mal, allerdings sind hier die Fenster anders gestaltet: in einem Raum über Eck, was viel Licht hinein lässt. Und im anderen Zimmer unspektakulär ein modernes: Hier hatte es als einzigen Raum in den völlig identisch gebauten Häusern der Siedlung früher gar kein Fenster gegeben – warum, ist bis heute unklar.
Nach der Führung durchs Haus, das über einen großen Garten – alle Grundstücke sind 800 bis 1.000 Quadratmeter groß – mit Terrasse und etlichen Hochbeeten verfügt, ist klar: In so einem perfekt restaurierten Baudenkmal ließe sich heute sicher gut leben. Aber wer hat hier denn früher gelebt?
Die Siedlung Neu-Jerusalem, insgesamt 21 baugleiche Doppelhäuser, elf nördlich, zehn südlich der Heerstraße, und ein Einzelhaus entstand in den Jahren von 1923 bis 1925, erzählt Dieter Nellessen. „Sie wurde für die Angehörigen der Verkehrsfliegerschule auf dem nahegelegenen Flughafen Staaken von der Deutschen Gartenstadt Gesellschaft gebaut.“ Die gemauerten Häuser trugen Klinker und Putz. Als Architekt fungierte Erwin Gutkind, der etliche überzeugende Beispiele der klassischen Moderne entwarf und umsetzte. Die Gebäude waren für einfache Leute bestimmt und mit kleinem Stall, zwei Kellerräumen und großem Garten für die Selbstversorgung konzipiert.
Klinker und Putz: Die kubischen Häuser von Gutkind hatten ein besonderes Merkmal, erzählt Nellessen. „Er hat Ziegel und Putz miteinander kombiniert und das Ganze umgedreht. Das Schwere, also der Ziegel, kam nach oben. Das Leichte, der Putz, nach unten.“ Doch die Ziegel waren nicht frostsicher: „Es wurde damals billig gebaut, sie sind nach den ersten Wintern kaputt gefroren, und wohl schon Ende der 1920er Jahre wurde auch der obere Teil der Häuser verputzt.“
Neben Neu-Jerusalem stammen Wohnsiedlungen in Lichtenberg und Reinickendorf von Gutkind. 1886 in Berlin geboren, emigrierte er 1933 nach Paris, siedelte 1935 nach London über und verlegte seine Tätigkeit nach Großbritannien, arbeitete dort jedoch nicht mehr als Architekt, sondern als Stadtplaner. Mit der Berufung zum Professor verließ Gutkind im Jahre 1957 London und zog nach Philadelphia, wo er 1968 verstarb – im Jahr seines Todes bekam Gutkind den Berliner Kunstpreis für Baukunst verliehen. Heute erinnert eine Gedenktafel in der Wohnanlage Sonnenhof in Lichtenberg, 2003 enthüllt, an ihn.
„Denkmalschutz mit den Leuten machen“
Seine Siedlung in Staaken wurde erst 1996 unter Denkmalschutz gestellt. In der Begründung dazu hieß es: „Die ursprüngliche Gestaltung der Fassaden mit einem Kontrast aus weiß verputzter Sockelzone und den dunkel verklinkerten Obergeschossen war wichtiger Bestandteil der plastischen und expressiven Wirkung der Häuser.“ Nun, diese Wirkung haben die restaurierten Häuser wieder – derzeit rund die Hälfte –, denn sie tragen wie früher ein dunkles ziegelsteinartiges Rot: nur eben per Farbanstrich. Das Rot betont die kubische Form. „Die Einheitlichkeit der Siedlung, deren Aussagekraft im Stile der neuen Sachlichkeit soll erhalten bleiben“, sagt Nellessen.
Wobei Rot nicht gleich Rot ist, das sieht man bei einem Spaziergang durch die Siedlung, auch der Laie. Die Rottöne variieren, was vor allem an der Qualität der Farbe liegt, wie der Fachmann erklärt. Nur: Dem Denkmalschutz sind da die Hände gebunden. „Das Konfliktpotenzial war und ist relativ hoch“, sagt Nellessen vorsichtig formulierend. Die Häuser sind halt alle in Privatbesitz und wurden einzeln verkauft, nachdem um das Jahr 2003 herum eine Immobilienfirma die Siedlung gekauft hatte – „das lief aber nicht so gut“.
Nach dem Versuch, die Siedlung im Gesamten an einen Investor zu verkaufen, wurden die Häuser einzeln an Privatpersonen veräußert. Das hatte der Bezirk zum Anlass genommen, ein Denkmalpflegekonzept zu erarbeiten – mit moderaten Denkmalauflagen. Förderungen gibt es für die Hausbesitzer indirekt über die Möglichkeiten der Steuerabschreibung, direkt über die Fördermittel für denkmalpflegerischen Mehraufwand.
„Denkmalschutz mit den Leuten machen“, ist ein Leitsatz von Nellessen, „nicht gegen sie.“ Zwingen will er folglich niemanden. Außer die Bausubstanz wäre gefährdet. Aber, räumt Nellesen zum Ende der Führung ein: „Eine durchsanierte Siedlung werden wir wohl nicht erleben.“
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