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taz-Serie Damals bei uns daheim – Teil 17Im Stiefkindergarten

Uli Hannemann
Kolumne
von Uli Hannemann

Jeden Morgen zwei Stunden zu Fuß. Im Sommer durch Wüste, im Herbst durch Schlamm und im Winter durch metertiefen Schnee.

Der Stiefkindergarten lag mitten im Wald Foto: dioxin/photocase.de

Hast du schon deine Hausaufgaben für den Stiefkindergarten gemacht?“ Stiefmutters Stimme durchschnitt die Luft wie ein Rasiermesser die Kehle eines kleinen Vogels, der noch gar nicht sterben wollte.

„Wir haben nichts auf“, log ich, da auch ich an meinem Leben hing. Am Stief­eltern­sprechtag würde die Wahrheit spätestens herauskommen, doch bis dahin hatte ich mir nun eine Galgenfrist verschafft. Denn natürlich hatten wir mehr Hausaufgaben auf, als ein Mensch jemals bewältigen konnte: zum Beispiel sämtliche Blätter aller Bäume der Welt einzusammeln, in ein Heft kleben und zu bestimmen. Heimat- und Sachkunde eben.

Ich versuchte der wachsenden Hausaufgabenstapel Herr zu werden wie ein depressiver Postzusteller seiner Briefe. Erst schob ich sie in meiner Stiefkinderzelle unters Bettchen, später vergrub ich sie, und als der Erdboden nichts mehr aufnehmen konnte, schluckte ich sie runter.

Der Stiefkindergarten lag mitten im Wald. Jeden Morgen zwei Stunden zu Fuß. Erst über eine Ampel, die immer Gelb zeigte. Anschließend querfeldein – im Sommer durch Wüste, im Herbst durch Schlamm und im Winter durch metertiefen Schnee. Am Abend wieder zwei Stunden durch die Dunkelheit zurück. Nur wenn Räuber oder Wölfe meinen Stummelbeinchen Flügel verliehen, ging es schneller.

Gefängnisartige Anlage

Beim Anblick der gefängnisartigen Anlage, die heute zum Glück nur noch als Kulisse für „Game of Thrones“ Verwendung findet, wusste ich nie recht, ob ich weinen oder heulen sollte. Hohe Mauern, Schießscharten und ein in bunten Fingerfarben bemaltes Schaufenster.

WALDWICHTEL. So hieß unser Stiefkindergarten. Die Erzieherinnen waren Tante Satan, Tante Tod und Tante Hammerhai. Es war eine katholische Einrichtung, und da ich evangelisch war, wurde ich jeden Tag gekreuzigt und erst zum Mittagsschlaf wieder abgenommen.

Damals bei uns daheim

NSU war damals eine angesehene Automarke in einem grauen Land, in dem der Weiße Riese und schwarze Pädagogik herrschten. Die Serie über eine Kindheit in der Westzone zwischen Umweltverschmutzung, Pellkartoffeln und Kaltem Krieg.

Die anderen spielten derweil Verstecken (ihnen wurde Essen, Spielzeug und Kleidung versteckt, so dass sie sie nie wiederfanden), Topfschlagen (dem Stiefkind wurde ein schwerer, gußeiserner Topf solange über den Schädel gezogen, bis es bewusstlos war, womit zugleich der Mittagsschlaf im wahrsten Sinn des Wortes eingeläutet wurde) und Sackhüpfen, bei dem alle Stiefkinder zusammen in einen großen Sack gesteckt wurden, auf dem die fünf Zentner schwere Tante Hammerhai anschließend herumhüpfte, -sprang und trampelte, bis kein Laut mehr aus dem Beutel drang.

Bluthunde

Doch das Sackhüpfen war noch nicht einmal die größte Gefahr, die bei den Waldwichteln drohte. In Zweierreihen gingen wir an die „früsche Luft“, an der Stiefkindergartenuniform befestigt hingen Klappspaten, Hausaufgabenheft und Brotbüchse.

Diese „Ausflüge“, tagelange Orientierungsmärsche durch unwegsames Gelände, dienten den kühnsten Stiefkindern als Gelegenheit zum Fluchtversuch. Doch ohne Ausnahme wurden sie von Tante Tods Bluthunden gehetzt, gestellt und zerrissen. Als einzige Hoffnung, diesem Elend zu entkommen, blieb im Grunde nur die Einschulung. Wenn wir es bis dahin durchhielten, würde alles besser werden.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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