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taz-Gesprächsrunden zur Terrorzelle NSU„Aus der Mitte der Gesellschaft“

Ein Jahr ist es her, seit der NSU aufflog. Bei taz-Gesprächsrunden diskutierten Betroffene, Zeugen und Politiker über die Verantwortung.

Es wurde auch über Mölln und Sarrazin gesprochen: Zuschauer bei einer der Gesprächsrunden Bild: Wolfgang Borrs

BERLIN taz | Nachdem in der Keupstraße in Köln im Juni 2004 eine Nagelbombe explodiert war, vermuteten die meisten Anwohner, dass Nazis dahintergesteckt haben mussten. „Das haben alle gesagt“, unterstrich Hülya Özdag, die in der Keupstraße eine Konditorei betreibt. Doch die Polizei ging von einem Streit zwischen Türken und Kurden oder Schutzgelderpressung aus.

Fast 300 Zuhörer drängten sich am Donnerstag abend im Theatersaal des „Ballhaus Naunynstraße“ in Berlin, um die Sicht von Betroffenen, Zeitzeugen und Politikern über den „braunen Terror“, dessen blutige Spur sich von Mölln und Solingen bis zu den Taten des NSU-Trios zieht, zu erfahren. Eingeladen hatten die taz und die Heinrich-Böll-Stiftung.

Ein großer Teil der beiden Gesprächsrunden drehte sich um die Frage, warum die Behörden so lange so blind sein konnten, das Motiv – mörderischen Türkenhass – zu übersehen. „Das Wort Panne kann ich in diesem Zusammenhang nicht mehr hören“, bekannte Petra Pau, die für die Linke im Bundestags-Untersuchungsausschuss sitzt. Und Mehmet Daimagüler, der als Anwalt zwei Opferfamilien vertritt, befand: „Wir können nicht über den NSU reden, ohne über Thilo Sarrazin zu sprechen“.

Ein Jahr danach

Am heutigen Freitag, 2. November, erscheint die taz mit einem sechseitigem Dossier zur rechtsextremen Terrorzelle NSU und einem beispiellosen Staatsversagen. Mit Analysen, Reportagen und Stimmen der Opferangehörigen. Am Kiosk, eKiosk oder im Abo.

Das sah Ibrahim Arslan genau so. Er war sieben Jahre alt, als zwei Neonazis einen Anschlag auf das Haus seiner Familie in der Mühlenstraße in Mölln verübten. Der Junge überlebte nur, weil seine Großmutter ihn in ein nasses Tuch wickelte, seither trägt er einen nervösen Reizhusten mit sich; seine Cousine, seine Schwester und seine Großmutter starben in den Flammen. Vor zwei Jahren kam Ibrahim Arslan nach Berlin, als Thilo Sarrazin dort erstmals sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ vorstellte. „Es war wichtig für mich gegen einen Menschen zu demonstrieren, der Nazis aufpusht“, erklärte er dazu.

„Die Medien haben dazu beigetragen“

Jahrelang musste Arslan um eine Opferentschädigungsrente kämpfen, auch von seiner Stadt fühlt er sich schlecht behandelt. Jetzt, wo sich der Anschlag dort zum zwanzigsten Mal jährt, wird es in Mölln ein Solidaritätskonzert mit Musikern wie Jan Delay geben, zu dem Ibrahim Arslan alle Anwesenden einlud. Allerdings, so der 27-jährige, gebe es in Mölln derzeit Graffitis mit dem Slogan „Nationalsozialismus jetzt“ . „Die Medien haben einen großen Teil dazu beigetragen, Vorurteile zu säen“, kritisierte Hülya Özdag, die nach dem Anschlag in der Keupstraße mithalf, dort ein Solidaritätsfest zu veranstalten. Doch der Ruf der Straße war ruiniert.

Auch Wolfgang Richter, der ehemalige Ausländerbeauftragte von Rostock, mahnte die Verantwortung der Medien an. Er erinnerte daran, dass es eine Lokalzeitung war, die jenen anonymen Drohbrief abdruckte, der Gewalt ankündigte, mit dem 1992 das Drama im Stadtteil Lichtenhagen begann. Die organisierte Naziszene sei erst später auf den Zug aufgesprungen, so Richter, der vor zwanzig Jahren in Lichtenhagen mehrere angstvolle Stunden mit verängstigten Vietnamesen und einem ZDF-Kamerateam im Sonnenblumenhaus eingeschlossen war.

Leider gebe es immer wieder Anzeichen dafür, dass man vor den Rechten zurückweiche, hat Wolfgang Richter festgestellt. Erst im Mai sprach sich ein Ortsbeirat der Stadt dagegen aus, eine Straße nach dem Mordopfer der Neonazi-Zelle NSU, der dort in einem Imbissstand erschossen worden war, in Mehmet-Turgut-Weg umzubennennen. „Das kommt aus der Mitte der Gesellschaft, nicht von organisierten Nazis“, betonte Richter.

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6 Kommentare

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  • L
    Leyla

    Im der Wochenschrift "DAS BLÄTTCHEN" (online)

    http://das-blaettchen.de/2012/03/manches-war-doch-anders-ein-braunbuch-mit-spaetfolgen-10483.html erschien in diesem Jahr ein informativer Bericht über der engen Verflechtungen von insgesamt 1.400 hochrangigen bundesdeutschen Personen mit ihren Lebensläufen zur Nazizeit:

    21 Ministern und Staatssekretären, 100 Generalen und Admiralen, 828 hohen Justizbeamten, Staatsanwälten und Richtern, 245 leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes sowie 297 mittleren bis hohen Beamten der Polizei und des Verfassungsschutzes, unter Bezug auf das "Braunbuch", dessen Reprint 2002 erschien und schnell vergriffen war.

    Äusserst lesenswert!!!

  • H
    Hafize

    Solche Knalltüten wie Klaus von Dohnanyi haben für den Verbleib von Thilo Sarrazin in der SPD gesorgt und der ist d e r Brandstifter par excellence, weil der nicht rumballert oder bombt, sondern auf dem bürgerlichen Sofa Nazi-Ideologie für die Mitte der Gesellschaft kreiert.

     

    Und es gibt auch eine sonderbare Fan-Gemeinde um Sarrazin, die immer noch behauptet seine Veröffentlichungen in Bild, Spiegel und dann im Buch wäre nicht NS-mäßig bzw. rechtsextrem.

     

    ->Damals sagte NPD-Chef Udo Voigt, dass Sarrazin ja nur zusammenfasse, was die NPD seit mehreren Jahrzehnten fordere, das sei ja eine Bestätigung der NPD-Linie ... Gut genug für die Solidarität von Klaus von Dohnanyi und anderen SPD-Politikern war's allemal.

  • H
    Harald

    Das Einengen des Rechtsradikalen auf die NSU Morde ist eine Verharmlosung sondergleichen. Die faschistischen Umtriebe von Neonazis und Islamnazis haben eine Dichte angenommen, die es heute lebensgefährlich macht, in der Öffentlichkeit Kippa zu tragen.

     

    Die lange Liste vom 'unaufgeklärten' rechtsextremistischen Morden zeigt, daß es keine 'Bevorzugung' einer bestimmten Ethnie gibt. Vielmehr werden die eigentlichen Hintergründe nie benannt und damit die Drahtzieher bis heute geschützt.

     

    Innerhalb der Dienste besteht ein kleines, absolutes, mächtiges Netzwerk, dessen Offenlegung eine Staatskrise auslösen würden. GBA Buback war seinerzeit vermutlich der erste und einzige, der diesen, aus der Nazizeit stammenden Sumpf, angehen wollte. Nicht nur daß er dies mit dem Leben bezahlen musste.

     

    Das Netzwerk installierte daraufhin einen der ihren als seinen Nachfolger, dessen 'Arbeit' bis in diese Tage hervorragend funktioniert.

  • T
    tommy

    Zusammengefasst will der Artikel wohl sagen, dass außer Grünen- und Linkenanhängern und Antifaaktivisten sowieso alle Deutschen Nazis sind und auf jeden Fall Mitschuld an den NSU-Morden tragen.

  • WD
    Wehret den Anfängen

    „Als die linken Bessermenschen die Rechten holten,

    habe ich geschwiegen,

    ich war ja kein Rechter.

     

    Als sie die Christdemokraten einsperrten,

    habe ich geschwiegen,

    ich war ja kein Christdemokrat.

     

    Als sie die Liberalen holten,

    habe ich geschwiegen,

    ich war ja kein Liberaler.

     

    Als sie mich holten,

    gab es keinen mehr,

    der protestieren konnte.“

     

    "Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus."

    Ignazio Silone

  • SB
    Sandra & Beatrice

    In der Wochenzeitschrift "Ossietzky"erschien der bisher beste analytische Artikel, der sich am Beispiel der NSU mit dem Thema der Vertuschung und Bagatellisierung faschistischer Aktivitäten durch staatliche Instituionen auseinandersetzt und "Roß und Reiter" nennt:

     

    http://www.ossietzky.net/21-2012&textfile=2044

     

    Der gestrige ARD- Spielfilm "Rommel" in der Hauptsendezeit um 20.15 Uhr ist das beste Beispiel, wie ein führender Nazi-Kriegsverbrecher, Hitlers "Wüstenfuchs"-Liebling, im staatlichen Fernsehen mit unseren GEZ-Geldern fast zum Widerständler verklärt, ja mitleidhaschend verherrlicht wird, obwohl er Millionen Menschenopfer auf dem Gewissen hat.

     

    Eine ehrliche differenzierte kritische Auseinandersetzung mit Rommel war nicht gefragt und anscheinend auch nicht erwünscht.

     

    Und genauso ordnen sich hier die sensationshaschenden History-Verklärungen von Guido Knopp über Hitler und die Verbrecher an seiner Seite ein.

     

    Es ist schockierend, wie auf solche Art und Weise Geschichtsverfälschungen über den deutschen Faschismus mit fast 60 Millionen Toten in die Köpfe der Zuschauer gepflanzt werden.

     

    Martin Niemöller: "Als die Nazis die Kommunisten holten....."

     

    „Als die Nazis die Kommunisten holten,

    habe ich geschwiegen,

    ich war ja kein Kommunist.

     

    Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,

    habe ich geschwiegen,

    ich war ja kein Sozialdemokrat.

     

    Als sie die Gewerkschafter holten,

    habe ich geschwiegen,

    ich war ja kein Gewerkschafter.

     

    Als sie mich holten,

    gab es keinen mehr,

    der protestieren konnte.“