taz-Autor wollte GroKo verhindern: Gabriels feuchte Augen
Er schlich sich in die SPD ein und stimmte dagegen. So wollte ein taz-Autor die Große Koalition zum Scheitern bringen – vergeblich. Ein Erlebnisbericht.
BERLIN taz | Es war ein schlechtes Omen, dass ich die Hochleistungsschlitzmaschinen nicht gesehen habe. Die sagenumwobenen Dinger, die 20.000 Umschläge in der Stunde öffnen. Als meine Schicht begann, waren sie weggeschlossen. Ich hatte sie nur gehört, früh am Morgen im Radio. Sie klangen wie Kreissägen.
An diesem Samstag scheitert mein Plan, die Große Koalition zu verhindern. Ich habe mich freiwillig gemeldet für die Auszählung des SPD-Mitgliedervotums. Um kurz nach neun Uhr betrete ich eine gleißend erleuchtete Backsteinhalle in Berlin-Kreuzberg, in der früher mal Eisenbahnwaggons und Postsäcke lagerten. Menschen stapeln Kartons, werfen Zettel in Kisten, sie sitzen an Dutzenden Tischen oder schieben Rollwagen, sie gestikulieren und rufen Kommandos. Viele tragen rote T-Shirts und Anoraks aus dem Wahlkampf auf. „Hessen-SPD“, „Jusos“, „Parteibasis“. Es wimmelt und rauscht, ich bin in einem Ameisenstaat gelandet.
Ein pinkfarbenes Bändchen mit der Aufschrift „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ prangt an meinem Handgelenk. Mein Handy liegt im Schließfach, keiner darf die Halle verlassen, bevor das Ergebnis bekannt gegeben wird – auch nicht die Genossen, die schon seit ein Uhr morgens hier sind.
Die Zahlen: Mit 369.680 Frauen und Männern sollen sich laut SPD 77,86 Prozent der 474.820 stimmberechtigten Sozialdemokraten an der bisher einmaligen Mitgliederbefragung beteiligt haben. Davon stimmten 75,96 Prozent mit Ja. Rund 32.000 Stimmen waren nicht gültig.
Der Text: In der taz vom vergangenen Wochenende beschrieb unser Autor seinen Versuch, die Große Koalition zu verhindern. Da konnte er noch hoffen, sein Text trug die programmatische Überschrift „Nein!“.
Ich musste eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, „sämtliche im Zusammenhang mit dem Auszählprozess erlangte Unterlagen und Informationen streng vertraulich zu behandeln und nicht an Dritte (auch nicht via Twitter, Facebook oder anderweitig) weiterzugeben“. Die Stimmzettel hatte die SPD an einem unbekannten Ort in Leipzig versteckt und in einem verplombten Zwölftonner samt Anhänger von der Polizei nach Berlin eskortieren lassen.
Das war am Freitagabend, als wir Freiwilligen im Willy-Brandt-Haus zur Einweisung antraten. Manche hatten Rollkoffer dabei. Sie waren aus ganz Deutschland angereist, aufgeteilt nach einem Länderschlüssel. Anfahrt und Hotel hat die SPD bezahlt. Das Licht war gedimmt, Schnattern erfüllte den Saal, die Genossen standen bei Brezeln und Apfelsaft beisammen, fotografierten sich gegenseitig unter der Willy-Statue.
Der Franke kringelt sich vor Lachen
Barbara Hendricks, die künftige Umweltministerin, sprach auf der Bühne mütterliche Sätze: „Die Halle ist geheizt, aber bringt euch einen Pulli mit.“ Ein storchbeiniger Schlaks aus Franken saß neben mir, er kringelte sich bei jedem zweiten Satz vor Lachen oder klatschte ohrenbetäubend in die Hände. Nichts konnte die Stimmung trüben – bis gegen 22 Uhr die letzte Powerpoint-Folie aufleuchtete, der „Einsatzplan“. Da erfuhr die Hälfte der Genossen: Sie müssen nachts um halb fünf ran.
Ein Stöhnen ging durch den Saal. Eine ältere Frau schlug die Hand vor den Mund, ein Mann mit Vollbart schimpfte immer wieder: „Na, herzlichen Glückwunsch! Nicht zu glauben! Herzlichen Glückwunsch!“ Ich hingegen konnte ausschlafen, der Schlaks aus Franken auch. Jetzt sitzt er in der Halle an einem Zähltisch, neben sich eine rote Postkiste. Darin liegt ein Haufen Stimmzettel mit dem gleichen Votum, entweder Ja, Nein oder Ungültig. Erst- und Zweitzähler zählen immer je zehn Zettel, dann streicht der Zweitzähler ein Kästchen auf dem Zählprotokoll ab und wirft die Zettel in einen Karton. Wenn alle Zettel drinliegen, tausche ich den Karton gegen einen leeren aus und stelle den Zählern eine neue Postkiste mit Stimmzetteln hin.
Die vollen Kartons schiebe ich auf einem Rollwagen ans Ende der Halle zur MPZK, zur Mandatsprüfungs- und Zählkommission. Mehr als einmal remple ich Genossen aus der Nachtschicht an. Sie stolpern wie Zombies durch die Gänge, weil sie nichts mehr zu tun haben, aber nicht rausdürfen. Nur einmal, gegen elf, setzen sie sich noch mal an die Tische, weil dann die Presse fotografiert und alles emsig aussehen soll. Eine Putzfrau saugt das Podium.
Am Nachbartisch diskutieren eine Zählerin und ein MPZK-Mitglied, ob ein Stimmzettel gültig ist, wenn neben dem Nein-Kreuz „Ich trete aus!“ steht. Die Stimme gilt. Auf eine Postkiste mit Nein-Stimmen kommen zwei, drei, vier mit Ja. Das sind die Stimmen der Unbegeisterten, mit denen ich vor der Auszählung so oft geredet habe. Das Ja von Björn, 30, der „privat am liebsten mit Nein gestimmt hätte“, es aber doch nicht tat, weil der Mindestlohn sein „Gewerkschafterherz höherschlagen“ lässt.
Andrea Nahles stromert und busselt
Das Ja von Dietmar, 57, dem Ortsteilbürgermeister in Thüringen, der von „kleinen Schritten“ und einem „Zweckbündnis“ sprach. Den ganzen Vormittag stromert Andrea Nahles in einem nachtblauen Blazer durch die Halle, schüttelt Hände, fällt um Hälse, busselt, herzt, strahlt. Gegen 12 steigt sie aufs Podium, schwenkt eine rote Kiste und verkündet: „Das ist die letzte!“
Der Ameisenstaat arbeitet viel schneller als geplant, Applaus brandet auf. „Und wie es der Zufall will, ist es eine Ja-Kiste.“ Ich lächle gequält und bringe den Rollwagen weg. Jetzt applaudieren sich die Genossen von Etappe zu Etappe. Die letzte Kiste, der letzte Zähltisch, der letzte Karton. Die SPD findet sich gerade richtig gut. Wie sie das alles gemeinsam hinbekommen haben! Dieser Kraftakt! Dieses Gemeinschaftsgefühl!
Jubelnd ziehen die Sozialdemokraten in die GroKo, die vor drei Monaten noch des Teufels war. Aber um die GroKo geht es hier ja eh nur noch am Rande. Auf das Ergebnis müssen wir noch über eine Stunde warten. „Mir reicht’s jetzt auch, wenn ich es aus den Nachrichten erfahre“, sagt eine weißhaarige Genossin, die schon seit halb fünf hier ist. Immerhin gibt es jetzt Currywurst, stundenlang gab es nur ein paar Weißbrotdreiecke mit Möhren und orange Käse.
In der Halle bauen Techniker Mikrofone, Scheinwerfer und Kameras auf. Wir Helfer sollen uns in einem Halbkreis hinter die Parteiführung stellen und uns einen Button anheften: „Mitgliedervotum – ich war dabei!“ „Sig-mar, Sig-mar!“, skandieren die Helfer, als die Parteiführung in die Halle einzieht. Mitten im Spalier steht der Schlaks und klatscht mit den Händen überm Kopf. Ich stehe etwas abseits und versuche, mich dem Klatschdruck zu entziehen.
Dietrichs Kopf-Bingo
Sigmar Gabriel dankt und dankt, die Genossen klatschen und klatschen. Im Kopf spiele ich Bingo. „Willy Brandt“ – Bingo. „150 Jahre“ – Bingo. „Innerparteiliche Demokratie“ – Bingo. „Stolz, Sozialdemokrat zu sein“ – Bingo. Gabriel hatte feuchte Augen, lese ich später.
Barbara Hendricks trägt das Ergebnis vor: 369.680 abgegebene Stimmen, „mit Ja haben gestimmt …“ Ich rechne: Wenn die Zahl mit „einhundert“ beginnt, könnte es noch – „zweihundertsechsundfünfzigtausend …“ Ich schließe die Augen, mein Kinn sackt auf die Brust. 76 Prozent der gültigen Stimmen für Ja. Unter den Helfern scheinen es eher 100 Prozent zu sein, es dröhnt und jubelt um mich herum, sie ballen die Fäuste, geben sich High Five. Ich sehe eine einzige Genossin, die nicht klatscht.
Ich bin sehr enttäuscht. Dass ich die GroKo verhindern könnte, war immer unwahrscheinlich. Es ist Gabriels Sieg, unbestritten. Andere Parteien werden an Mitgliederbefragungen nicht mehr vorbeikommen, auch das erkenne ich an. Aber dass am Ende so wenige Nein gesagt haben, deprimiert mich. Andrea Nahles wendet sich noch einmal an die, die nur zum Neinsagen eingetreten sind. Die sollten doch in der Partei bleiben, „der nächste Mitgliederentscheid kommt bestimmt“. Tut mir leid, Andrea, wir sind demnächst wieder per Sie.
In der Kantine dampfen Braten und Kartoffelgratin, ein DJ legt Abba auf, aber viele Helfer eilen zu den Bahnhöfen, sie wollen ihre Züge nach Kiel, Aschaffenburg und Mannheim erwischen. Von der Parteispitze ist keiner mehr da.
Unser Autor heißt eigentlich nicht Erik Dietrich. Wir haben seinen Namen geändert, damit er bei der Auszählung dabei sein kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“