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talk of the townAm Gängelband

Die EU-ChefInnen wollen bei der Juncker-Nachfolge das letzte Wort sprechen – und das am liebsten vor der Wahl. Wozu dann eigentlich der ganze Aufwand?

Hier werden zwar Hände geschüttelt, aber eigentlich stoßen sie alle vor den Kopf Foto: Virginia Mayo/ap/dpa

Von Eric Bonse

In einer normalen Demokratie würde kein Mensch auf die Idee kommen, schon vor der Wahl über die Verteilung der Ministerposten zu reden. Erst wird das neue Parlament gewählt, dann sucht der Wahlsieger eine Mehrheit, und erst ganz am Ende beginnt das Postengeschacher – so läuft das normalerweise.

Doch die EU ist keine normale Demokratie. Nach dem Sondergipfel in Sibiu muss man sich sogar fragen, was für ein Demokratieverständnis Kanzlerin Angela Merkel und die anderen Staats- und RegierungschefInnen eigentlich haben. Denn in dem rumänischen Vorzeigestädtchen hat schon jetzt das Gerangel um die wichtigsten EU-Posten begonnen – und das zwei Wochen vor der Europawahl!

Als wäre es das Normalste der Welt, haben die EU-ChefInnen erklärt, dass sie das erste und letzte Wort bei der Besetzung der Topjobs haben wollen. Das gilt nicht nur für die Nachfolge von Ratspräsident Donald Tusk oder den Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. Nein, Merkel & Co. wollen auch bestimmen, wer auf Kommissionschef Jean-Claude Juncker folgt.

Damit stoßen sie all jene vor den Kopf, die geglaubt hatten, es seien die WählerInnen, die den Juncker-Nachfolger bestimmen – über die SpitzenkandidatInnen der Parteien für die Europawahl. Aber da gebe es keinen Automatismus, betonten die ChefInnen in Sibiu – und machten sich sogar daran, die Front­runner der europäischen Parteienfamilien öffentlich zu demontieren.

„Meine Wähler haben keine Ahnung, wer Spitzenkandidat ist“, sagte Luxemburgs Premier Xavier Bettel. Das Verfahren überzeuge ihn nicht. Ähnlich äußerte sich die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė. Dass das Europarlament versuche, den nächsten Kommis­sions­chef zu bestimmen, sei „ein bisschen außerhalb der demokratischen Prozeduren und Verträge.“

Auch Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron bekräftigte seinen Widerstand gegen die Spitzenkandidaten. Er fühle sich an das Verfahren nicht gebunden, betonte der eigenwillige Franzose. Denn die Parteienfamilien seien nicht demokratisch legitimiert. Außerdem fehlten die EU-weiten Listen, ohne die die Spitzenkandidaten eben nicht in ganz Europa gewählt werden können.

Da hat Macron durchaus recht. Selbst in Nordrhein-Westfalen kann man nicht für den konservativen Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) stimmen, obwohl dieser Deutscher ist. Nur die Bayern können ihr Kreuzchen bei Weber machen, wenn sie es tatsächlich wollen. Das ist die Schuld der Christdemokraten, die die Einführung von EU-weiten Listen verhindert haben. Auch das ist ein Demokratieproblem, genau wie die Auswahl der Kandidaten durch europäische Parteien, die längst auf dem absteigenden Ast sind.

„Meine Wähler haben keine Ahnung, wer Spitzen­kandidat ist“

Xavier Bettel, Luxemburgs Premier

Webers konservative Euro­päische Volkspartei steht kurz vor der Abspaltung der rechtslastigen Fidesz aus Ungarn. Und die Sozialdemokraten sind in vielen Ländern auf dem Weg zu einer Splitterpartei. Gleichzeitig haben neue Parteien – wie Ma­crons „En Marche“, aber auch die Demokratiebewegung des Griechen Yanis Varoufakis – kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen.

Dennoch ist das Vorgehen der EU-ChefInnen inakzeptabel. Dass sie Vorbehalte gegen die Spitzenkandidaten haben, ist ihr gutes Recht; sie ­können sich dabei sogar auf den EU-­Vertrag berufen. Dass sie aber nicht einmal die Europawahl und die erste Sitzung des neuen ­Europaparlaments abwarten, ist ein ­schwerer Verstoß gegen die demokratischen Spielregeln.

Schon zwei Tage nach der Wahl findet der nächste EU-Gipfel statt. Dort wollen Merkel, Macron und die anderen den Wahlsieger ins Gebet nehmen. Wer auch immer das sein mag – er wird sich am Gängelband der StaatenlenkerInnen wiederfinden.

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