: „Den USA droht ein Polizeistaat“
INTERVIEW ERIC CHAUVISTRÉ
taz: Herr Ellsberg, der Militäreinsatz im Irak wird in den USA immer unpopulärer. Bush steht innenpolitisch unter Druck. Auch Republikaner bedrängen ihn. Ist der Abzug aus Irak absehbar?
Daniel Ellsberg: Viele Amerikaner hoffen, dass Bush aus politischen Gründen oder wegen der hohen Kosten dazu gezwungen wird, sich aus dem Irak zurückzuziehen. Ich glaube das nicht. Keine Regierung, ob republikanisch oder demokratisch, wird bereit sein, die Militärbasen in Irak aufzugeben. Statt rauszugehen, werden wir eher noch weiter reingehen.
Aus Vietnam sind die USA letztendlich auch abgezogen.
Wir sind schließlich aus Vietnam abgezogen, ja. Aber selbst da dauerte es zehn Jahre. Doch es gab kein Öl in Vietnam, und die Stützpunkte in Vietnam hatten keinerlei strategische Bedeutung für die USA. Wenn die Basen nicht dort wären, wo sie sind, inmitten der Ölfelder, nahe an Israel, nahe am Iran und damit nützlich für alle möglichen Einsätze, würde ich es nicht so deutlich sagen.
Einen Abzug wird es nicht geben?
Ich werde ihn nicht erleben. Sie auch nicht. Und Ihre Kinder womöglich auch nicht. Ich denke, wir werden ewig im Irak bleiben.
Die öffentlichen Debatten in den USA klingen da ganz anders.
Die Leute spekulieren darüber, ob es im nächsten Jahr, vielleicht vor den Kongresswahlen 2006, oder vielleicht im Jahr 2009 sein wird. Doch das trifft die Sache nicht. Ich tue, was ich kann, um diese Situation zu ändern. Bloß glaube ich nicht, dass ich damit Erfolg haben werde.
1971 haben Sie Geheimdokumente aus dem US-Verteidigungsministerium an die Presse gegeben. Die Veröffentlichung trug erheblich zum US-Rückzug aus Vietnam bei. Brauchen wir neue „Pentagon Papers“, um den Irakkrieg zu beenden?
Ich habe das leider Jahre zu spät getan – als der Krieg längst im Gange war. Ich wünschte, ich hätte die „Pentagon Papers“ 1964 oder 1965 herausgebracht, als ich auch schon Zugriff auf sie hatte und möglicherweise den Krieg noch hätte verhindern können.
Immerhin gab es vor dem Irakkrieg weltweit heftige Proteste. Verhindert wurde der Angriff dennoch nicht.
Es gibt eine Chance, wenigstens die nächste Aggression zu verhindern. Aber ich glaube nicht, dass wir das in den USA allein erreichen können.
Sie sprechen von einem Angriff auf den Iran?
Ich denke, die derzeitige US-Regierung wird mit großer Wahrscheinlichkeit einen Luftangriff auf den Iran unternehmen. Zu einer Zeit, die ihr politisch geeignet scheint. Dies könnte noch in diesem Jahr sein oder auch im nächsten. Ich erwarte, dass es jedenfalls noch vor den Kongresswahlen im November 2006 passiert.
Wenn die Opposition in den USA dies nicht verhindern kann, wer dann?
Eine starke europäische Position wird die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes gegen Iran nicht bis auf null herunterdrücken. Aber sie kann sie drastisch senken, wenn die europäischen Regierungen im Vorfeld eine ausreichend klare Haltung einnehmen.
Wen in Washington soll das beeindrucken?
Man darf nicht erwarten, die Leute im Weißen Haus selbst von einem solchen Angriff abschrecken zu können. Aber es ist sicher möglich, das Denken des Ostküsten-Establishments zu beeinflussen. Das sind Leute, die sehr viel Wert auf die Beziehungen der USA zu Westeuropa legen. Ihnen muss deutlich gemacht werden, dass das, was die USA planen, für Europa eine völlig inakzeptable Aggression darstellt.
Womit könnten die Europäer denn drohen?
Ich hielte es für angemessen, den Austritt aus der Nato für den Fall anzudrohen, dass die USA den Iran angreifen.
Nicht sehr realistisch.
Wenn das zu weit gehend ist, dann muss zumindest für den Fall des Einsatzes von Atomwaffen gegen den Iran klar gemacht werden: Das ist das Ende der Nato. Die Nato kann nicht weiterexistieren als eine Allianz, die ein Land mit Atomwaffen angreift, das selbst kein Mitglied der Nato angegriffen hat.
Sie halten einen Atomwaffeneinsatz für denkbar?
Der erste Einsatz würde wohl so gewählt werden, dass die Atomwaffen nicht Bevölkerungszentren treffen – um die Weltöffentlichkeit nicht zu sehr zu schockieren.
Herr Ellsberg, die Anschläge vom 11. September 2001 haben die USA und ihre Außenpolitik verändert. Besteht nach mehr als vier Jahren Hoffnung auf Besserung?
Ich fürchte, al-Qaida ist in der Lage, eine weitere schwere Attacke auf die USA zu verüben. Für den Fall prognostiziere ich eine sehr radikale Veränderung unserer Politik. Es wird einen neuen, sehr viel repressiveren „Patriot Act“ geben, der das alte Gesetzespaket wie die „Bill of Rights“ aussehen lassen wird. Die amerikanische Erklärung der Menschenrechte wird dann Geschichte sein. Die Wehrpflicht würde wieder eingeführt. Zumindest im unmittelbaren Umfeld eines Anschlags würde das Kriegsrecht verhängt. Und ich fürchte, dass dann Sammellager für Männer eingerichtet werden, die aus dem Mittleren Osten stammen – in der Art, wie es sie für Japaner im Zweiten Weltkrieg gab.
Das klingt nach Polizeistaat?
Es wäre ein Polizeistaat – ein extrem autoritärer Staat mit theokratischem Charakter, basierend auf dem Gefühl einer unmittelbaren physischen Bedrohung durch al-Qaida. Dazu muss der Anschlag nicht sehr viel größer sein als das, was wir in Madrid oder London gesehen haben.
Wahlen würde es aber auch in dem von Ihnen prognostizierten Polizeistaat noch geben?
Die Kontrolle der Medien und des politischen Prozesses wäre so, dass wir nicht mehr von Wahlen im alten Sinne sprechen könnten. Die Taktik, Gegner des Präsidenten als Verräter zu diffamieren, würde in solch einer Situation gut funktionieren.
Bislang waren die Vereinigten Staaten von Amerika immer in der Lage, solche Entwicklungen zu verhindern.
Es gibt viele, die dem widerstehen, auch wenn wir in der Minderheit sind. Ich bin aber sehr in Sorge, weil der Widerstand so schwach ist. Im Fall des Irak haben die US-Medien die Lügen des Präsidenten unterstützt – noch bis vor kurzer Zeit. Ja, es gibt wachsende Kritik in den USA, aber es gibt nicht genug. Der nächste Angriff würde von dieser US-Regierung wie der Reichstagsbrand behandelt – und könnte zu einer totalen Änderung unseres Regierungssystems führen. Deutschland war eine Demokratie im Januar 1933, es war keine Demokratie mehr einen Monat später. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe meine Regierung auch zu den dunkelsten Stunden nie als faschistisch bezeichnet. Und sie ist auch heute weit davon entfernt. Aber ich sage: Nach der nächsten Terrorattacke werden die USA zu einem Polizeistaat.
Das hört sich fast nach einem Appell zum Widerstand an.
Gewalttätige Aktionen machen die Sache nur noch schlimmer. Sie würden den Vorwand liefern für Kriegsrecht und weitgehende Unterdrückung. Ich glaube ohnehin nicht, dass gewaltsame Revolutionen in der Geschichte viel gebracht haben. In den USA würde gewalttätiger Widerstand nur noch schneller einen Polizeistaat bringen – und das mit öffentlicher Unterstützung. Gewaltlose Aktionen, einschließlich zivilen Ungehorsams, halte ich aber für angebracht. Ich hoffe, dass al-Qaida wenigstens nicht attackiert, während Bush an der Regierung ist. Aber es ist wahrscheinlich, dass Bush-ähnliche Leute auch nach 2008 noch an der Macht sein werden.
Herr Ellsberg, haben Sie auch hier einen Auftrag für Europa?
Die Europäer und der Rest der Welt sollten schon jetzt darüber nachdenken, wie sie am besten mit höchst autoritären und expansionistischen USA leben können. Dies sind sehr finstere Aussichten, über die ich hier spreche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen