grandios gescheitert: Warum wird erst jetzt geboostert?
Überraschung! Es ist Winter und die Zahl der Corona-Infektionen geht hoch. Überraschung! Es ist Winter, eine neue Welle türmt sich auf. Klar, nachher weiß man es immer besser. Nörgler und Wutbürger sind keine sympathischen Figuren. Aber es ist schon zum Verzweifeln, wenn sich das Gefühl einstellt, dass die Verantwortlichen im zweiten Coronawinter genauso chaotisch agieren wie im ersten.
Denn manches hätte man wissen und sich darauf vorbereiten können – wenn man denn einen Begriff von der Natur dieser Krise hätte. Ich habe nicht gezählt, wie oft ich in Radio und TV – im vergangenen Winter und jetzt wieder – diese Formeln gehört habe: Man müsse noch einmal durchhalten. Auf den letzten Metern Impfpflicht einzuführen sei doch …
Nein, liebe Expertinnen und Experten. Es gilt nicht „durchzuhalten“ wie bei einem Marathon. Wir befinden uns auch nicht „auf den letzten Metern“ der Strecke. Falls Ihnen das noch keiner gesagt haben sollte: SARS-CoV-2 is here to stay. Das Virus mutiert ständig in potenziell Milliarden von Menschen, die noch ungeimpft sind. Wir werden mit ihm noch lange, lange zu tun haben.
„Impfpflicht“ fordern jetzt Leute, die eben noch „Freedom Day!“ riefen. Die konnten sich Mitte Oktober, als in Israel über 40 Prozent der Bevölkerung zum dritten Mal geimpft waren, ein Ende der Beschränkungen vorstellen. Da hatten sich die Erkenntnisse längst verdichtet, dass die Impfwirkung weit früher nachlässt als gedacht.
Die Impfpflichtkampagne mag sich auf gute Argumente berufen. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass sie auch dazu dient, von der Frage abzulenken, warum erst „jetzt“ geboostert wird (Termine gibt’s dann vielleicht im Januar). Warum es nicht in jedem Einkaufszentrum, in den Vierteln der Städte, also überall, niedrigschwellige Impfangebote gibt – für all jene, die noch gar nicht geimpft sind, und für diejenigen, die ihren Boost nicht erst in zwei Monaten bekommen wollen.
Ulrich Gutmair
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