die wahrheit: Leben hinter Glas
Der Philosoph im Alltag: Die Fische, die wir alle in unserem Aquarium sind.
Ich bin ein Feind von Aquarien, denn der Gedanke, dass Fische, deren Lebensraum die offene See oder zumindest ein ausladender Tümpel ist, in dieser Pfütze ihr Leben fristen müssen, ist deprimierend. Alle anderen Menschen würden Fische in Aquarien ebenso deprimierend finden, wenn Fische eine Mimik hätten. Sie haben aber keine, und das ist ihr Verderben. Lebewesen ohne Mimik werden von unsereins als nicht artverwandt und richtig lebendig empfunden und daher kalt lächelnd mit einem Knüppel totgeschlagen, abgeschuppt oder eben in fürchterlich kleine Aquarien gesperrt.
All diese Überlegungen gingen mir bei meinem Zahnarzt durch den Kopf, der zum Zwecke der Patientenberuhigung ein Aquarium besitzt. Mit Inhalt. Und auf dieses Aquarium starrte ich oft während der langen Wartezeiten im Wartezimmer. Die Fischchen starrten teilweise zurück. Und irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: All diese winzigen Fische sind Le-be-we-sen im Sinne des Wortes. Mit winzigen Gehirnen und Gliedmaßen. Mit winzigen Schicksalen und winzigen Vorlieben und Ängsten und Neurosen.
Es gibt rot leuchtende kleine Dinger, die mit ihren blutunterlaufenen Äuglein scheinbar unbeschwert ans Glas schwimmen und doch immer wieder, wie von einem unsichtbaren Stromstoß oder Befehl dirigiert, wie panisch davonhetzen müssen, um sich hinter einer Schlingpflanze zu verbergen. Irgendwas passiert in ihrer albern kleinen Welt, das sie erschreckt oder erheitert oder in Panik versetzt. Oder er, der winzig schraffierte Vater-Fisch, dessen einzige Daseinsberechtigung es ist, ausgebeutet und für dumm verkauft zu werden. Von einer Schlampe von Mutter-Fisch. Die legt ihm ständig Eier in eine Kuhle in einem kleinen Stein. Dann umschwimmt sie ihn blasiert und wedelt auffordernd mit ihren lackierten Flossen: "Da, mach deine Arbeit!" Die besteht darin, Tag und Nacht auf die Eier in der kleinen Kuhle achtzugeben. Während Madame weiß Gott wo ihre Zeit verbringt. Wahrscheinlich lässt sie sich von irgendeinem der anderen schraffierten Kerle neue Eier anhängen.
Oder: die wahrscheinlich tragische Geschichte der "Drei von hinterm alten Ast". Das Aquarium wird auf seiner linken Seite von einem knorrigen, hoch aufragenden Ast begrenzt. Ich hatte diesem Ast nie eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Bis während einer langen Wartezeit die Sprechstundenhilfe vorbeikam und routiniert mit dem Fingernagel an die seitliche Scheibe des Glaskastens klackerte. Und siehe da: Plötzlich paddelten drei ziemlich große und ziemlich bunt gestreifte Gesellen hinter dem Ast hervor, die durch ihre Fingernägel komplett die Contenance verloren. Große, aber augenscheinlich völlig neurotische Lackel, die auch sofort wieder hinter dem Ast in Deckung gingen. "Apistigramma cacatuoides - Kakaduzwergbuntbarsche. Die sieht man sonst nie", flüsterte die Sprechstundenhilfe mir zu. "Jedenfalls nie am Tag. Die verstecken sich immer hinter dem Ast. Nur wenn man an die Seite klopft, kommen sie hervor."
Und um mir den Wahrheitsgehalt ihrer Information zu verdeutlichen, klackerte sie noch mal rasch gegen die seitliche Scheibe. Und wieder staubte es, als die drei Gestreiften mit - wie mir schien - panisch geweiteten Äuglein die Deckung hinter dem Ast aufgaben. "Völlig meschugge", kicherte die Sprechstundenhilfe. "Wie mein Nachbar aus dem dritten Stock, der geht auch nie aus dem Haus " Wie ihr Nachbar aus dem dritten Stock ?
Die Sprechstundenhilfe sagte diese Worte so einfach dahin. Nicht ahnend, dass sie damit genau den Kern der Dinge traf. Alles bildet sich in allem ab. Der scheue Nachbar aus dem dritten Stock ist nichts anderes als die drei Kakaduzwergbuntbarsche. Von einem tragischen oder lächerlichen Schicksal dazu verbannt, hinter einem Ast beziehungsweise in einer mickrigen Zweieinhalbzimmerwohnung das Leben zu verdämmern. Und ich ahnte: Dieses Aquarium birgt alle Geschichten, die wir auch kennen
In diesem kleinen, etwas moosigen Aquarium findet eine komplette Welt statt. Denn für diese paar Fische gibt es nichts als dieses Aquarium. Sie sind aus ihren winzigen Eiern geschlüpft, haben nur diese paar Liter Wasser kennengelernt und nie eine andere Welt erfahren. Sie sehen an den Rändern ihrer Welt seltsame Phänomene, mit denen sie nichts anfangen können. Arme Fische? Aber, liebe Mitkarpfen, sind wir nicht in der genau gleichen Lage? Zugegeben: Unser Aquarium ist um einiges größer, aber ist Größe nicht ein sehr relativer Begriff?
All diese Gedanken stoben mir plötzlich durch den Kopf, und ich fühlte mich weich und weit im Herzen und brüderlich den kleinen Wesen in diesem Aquarium im Sprechzimmer meines Zahnarztes verbunden. Und ich wäre wohl noch Stunden so gesessen, wenn nicht plötzlich die Sprechstundenhilfe gerufen hätte: "Der Nächste bitte, es ist so weit! Ich glaube, sie sind heute dran mit dieser zugegeben etwas unangenehmen Wurzelbehandlung!"
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