die wahrheit: In den Brotaufstrichbibelglasfeldern
Es gibt Menschen, die behaupten, ihr Leben nähme sie so sehr in Anspruch, dass sie nicht mehr zum Lesen kämen.
E s gibt Menschen, die behaupten, ihr Leben nähme sie so sehr in Anspruch, dass sie nicht mehr zum Lesen kämen, und deswegen müssten sie auf den Urlaub warten, um sich überhaupt mal wieder dem Literaturgenuss hingeben zu können. Aber nicht irgendein Lektüre-Vorgang wird dann angestrebt, sondern diese Menschen sehnen sich danach, endlich mal wieder ein "gutes" Buch zu lesen. Das sind selbstverständlich Ausreden, denn wer lesen will, der liest auch so, und vor allem braucht er dazu kein "gutes" Buch.
In einem Aufsatz von Peter Bichsel fand ich einst die schönen Sätze "Leser sind Süchtige" und "Leser sind Allesleser". Deswegen brauchen Leser auch keine spezielle und in großen Mengen vorhandene Zeit zum Lesen oder gar wertvolle Literatur. Der Alkoholiker wartet ja auch nicht auf den pittoresken Sonnenuntergang, um sich ein Glas "guten" Weins zu gönnen - er schüttet sich, wann immer es passt, irgendeinen billigen Fusel in den Hals. So auch der echte Leser.
Ich zum Beispiel lese beim Frühstück sogar die Aufdrucke von Lebensmittelpackungen durch, bloß weil ich zu faul bin, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. So erfährt man allerdings auch interessante Dinge, zum Beispiel wie man Haferflockenplätzchen oder echten Porridge herstellt (Literaturangabe - Peter Kölln: Köllns echte Kernige. Elmshorn 2011) oder dass Vanillesoße den Farbstoffe "Beta-Carotin", "pflanzliches Fett gehärtet", und die "Milchzucker-Emulgatoren E 471 und E 472a" enthält (Dr. Oetker: Dessert-Soße Vanille-Geschmack ohne Kochen. Bielefeld 2010). Manchmal kann man auch lernen, wann Brasilien zum ersten Mal Fußballweltmeister wurde (1958) oder was genau ein "Quarterback" im American Football ist (hab ich vergessen).
Es gibt sogar einen Hersteller von Öko-Brotaufstrichen, der auf jedes Etikett seiner Gläschen einen Bibelspruch nebst einer Telefonnummer druckt, die man anrufen soll, um noch mehr über Jesus zu erfahren. Ich hab da allerdings noch nie angerufen, auch nicht aus Scheiß, weil ich Angst habe, dass sich am anderen Ende ein Propaganda-Offizier einer christlichen Öko-Sekten-Landkommune meldet und mit Hilfe der Rufnummererkennung sofort feststellt, wer ich bin, um mich die nächsten zwanzig Jahre mit Sektenmaterial zu bombardieren.
Ich frage mich allerdings, wie viele Glas-Etiketten man mit je einem Bibelspruch bedrucken müsste, um die ganze Heilige Schrift auf diese Weise zu verewigen. Wahrscheinlich würde diese komplette Gläschen-Bibel nebeneinandergestellt den Raum von 1.539 Fußballfeldern einnehmen. Und ein Pfarrer, der in Ermangelung einer handlicheren Bibel-Ausgabe auf den Gläschen nachschlagen müsste, was genau in Matthäus 14, 4 steht, wäre dreieinhalb Stunden mit dem Mofa auf den Brotaufstrichbibelglasfeldern unterwegs, bevor er Auskunft erteilen könnte. Dass man das nicht in der normalen Arbeitszeit schaffen kann, sehe ich ein, weswegen ich ausnahmsweise dafür Verständnis aufbringen würde, wenn der Pfarrer die Bibellektüre in seinen Sommerurlaub verlegte.
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