piwik no script img

die ortsbegehungDas Waldopfer von Wilhelmsburg

Auf der Hamburger Elbinsel kämpft eine Bürgerinitiative um den Erhalt des einzigen Waldes.Er wächst dort seit der Großen Sturmflut von 1962 und soll jetzt Wohnungen weichen

Der Wilde Wald in Wilhelmsburg Illustration: Jeong Hwa Min

Aus Hamburg Daniel Wiese

Ein Wald! Das ist das Letzte, was man hier erwarten würde, wenn man vom Hamburger Hafengebiet mit seinen kilometerlangen Ausfallstraßen nach Wilhelmsburg kommt. Im kleinen Spreehafen knarren leise die Hausboote, jetzt noch auf den Hauptdeich, der in vielen Jahren immer weiter erhöht worden ist, auf inzwischen sechs Meter über Nomalnull, und da steht er, der Wald, auf der anderen Seite der Straße, wie eine grüne Wand.

Es ist eine unwirtliche Gegend. Vor einem donnert der Schwerlastverkehr vorbei, zur Linken ragen in der Ferne hinter der Autobahn die Schlote der Kupferhütte Aurubis hoch. Eine Wiese könnte hier vielleicht stehen, ein Kleingarten, aber ein Wald? Dicht sieht er aus und nicht ganz echt, so als wäre er hierher gebeamt worden.

„Wilder Wald“ nennen ihn liebevoll die, die für ihn kämpfen. An der Stichstraße, die ihn in zwei Hälften teilt, stehen gelbe Kreuze, wie man sie aus dem Wendland kennt. „WiWa bleibt!!!“ steht darauf. Drei Ausrufezeichen. Darunter auf einem Schild: „Das ist ein Wald, kein Baugebiet.“ Die drohenden Baupläne sind auch abgebildet, sie zeigen das sogenannte „Spreehafenviertel“. Würde es gebaut, würde nicht mehr viel übrig bleiben vom Wilden Wald, der der einzige im ganzen Stadtteil ist.

Seit 1962 ist er hier am Rand von Wilhelmsburg gewachsen, seit der Großen Sturmflut, die in einer Februarnacht über die Stadt hereinbrach. Wilhelmsburg war von der Sturmflut besonders betroffen, denn der Stadtteil ist eigentlich nur eine Insel in der Elbe, von Deichen umgeben. Ohne die Deiche wäre Wilhelmsburg nicht da, es wäre andauernd überschwemmt.

Die Sturmflut von 1962, die vom damaligen Hamburger Innensenator, dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt, zunächst verschlafen wurde, war höher als erwartet. Der Wind drehte auf West und irgendwann brach der Deich, der jetzt so friedlich und schön befestigt vor dem Spreehafen liegt. Das Wasser strömte in die Senke, in der heute der Wilde Wald steht, in die Kleingärten, die dort waren und in denen nach dem Krieg Flüchtlinge in Gartenhäusern wohnten.

Auf den Dächern erfroren

Das Wasser war eisig, die Flut stieg, von den Dächern ertönten Rufe, die immer leiser wurden, erzählt Sigrun Clausen von der Bürgerinitiative der „Waldretter*innen“. „Hier sind Menschen gestorben“, sagt sie. Sie erfroren auf den Dächern, ertranken im Wasser, die rettenden Boote kamen für viele zu spät. Auch das macht den Wald zu einem besonderen Ort.

Ein Bürgerbegehren für den Erhalt des Waldes bekam nicht genug Stimmen, aber die Bürgerinitiative denkt nicht ans Aufgeben. Ob man nicht mit den städtischen Planern verhandeln solle, die vom Wald nur noch eine Baumreihe auf seiner Hinterseite übrig lassen wollen, dort, wo er an einen Kanal grenzt? Sigrun Clausen schnaubt. Der Wald dürfe nicht angetastet werden, meint sie und führt zur Rechten in den Wald hinein, einen Pfad entlang bis zu einer Lichtung, auf der ein Baumhaus steht.

Libellen schwirren durch die Luft, Vögel flattern, die Sonne bricht ihr Licht in den Zweigen. Eigentlich ist es nicht erlaubt, hier im Wald ein Baumhaus zu bauen, aber in diesem Fall sieht es anders aus, das Baumhaus wurde als „Kundgebungsmittel“ angemeldet und darf deswegen stehen bleiben. Hoch oben hockt es im Baum, geschmückt mit Transparenten, auf denen Botschaften stehen wie „climate endgame is loading“.

Das Baumhaus hat der andere Arm des Widerstands errichtet, Sigrun Clausen nennt sie „die Aktivist*innen“, mit einer Spur Respekt in der Stimme. Bei den Vollnhöfer Weiden, einem viel größeren Wald im benachbarten Harburg, hatten die Ak­ti­vis­t*in­nen schon für den Erhalt gekämpft und gewonnen. Nun halten sie hier ihre Mahnwachen ab, immer zum 1. Oktober hin, wenn die Baumfällsaison beginnt.

Sollten die Motorsägen anrücken, muss sich die Stadt Hamburg auf eine Baumbesetzung einstellen, und das will eigentlich niemand. Andererseits hat die Stadt große Pläne mit Wilhelmsburg. Seit Jahren propagiert sie den „Sprung über die Elbe“, mehr Menschen sollen hierher ziehen, in den Arbeiterstadtteil, auf dem noch Platz ist für neue Wohnungen, viel Platz, aber doch nicht so viel, dass man den Wilden Wald stehen lassen will.

In Zeiten der Erderwärmung

Nix wie hin

Die Besonderheit

Der Wilde Wald wächst weitgehend ungehindert seit der Sturmflut von 1962 am nördlichen Ende von Wilhelmsburg. Er ist Heimat seltener Libellen, Fledermäuse, Vögel und Amphibien.

Das Zielpublikum

Alle, die vergessen wollen, dass sie sich in einem Stadtteil mit hoher Industriedichte befinden.

Hindernisse auf dem Weg

Die Pfade, die hindurchführen, sind mitunter fast zugewuchert. Schilder fordern dazu auf, auf den Wegen zu bleiben.

Denn klar, er ist gut fürs Mikroklima, er kühlt, in Zeiten der Erderwärmung ist das wichtig. Doch 1.100 Wohnungen, direkt am Spreehafen, 10 Minuten von der S-Bahn-Station Wilhelmsburg entfernt: Wie sollte man hier nicht bauen?

Die in Hamburg regierende SPD jedenfalls will darauf nicht verzichten, und die Grünen, die bisher für den Erhalt des Waldes waren, sind umgekippt. Im neuen Koalitionsvertrag ist das Spreehafenviertel und damit die Rodung des Waldes beschlossene Sache: „Die entsprechenden Bebauungspläne werden zügig vorangetrieben“, steht da.

Die Zeichen stehen wohl auf Kampf. Die Wald­ret­te­r*in­nen organisieren derzeit an jedem zweiten Sonntag im Monat Waldspaziergänge, bei denen man sich seinen eigenen Klimapass machen kann. Und bis zur nächsten Mahnwache im Herbst ist es auch nicht mehr weit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen