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die dritte meinungDie EU hat das Visa-Abkommen mit Russland ausgesetzt. Das ist falsch, sagt Marie Dumoulin

Marie Dumoulinist Direktorin des Programms Wider Europe am European Council on Foreign Relations (ECFR).

Ja, es stimmt. Es fühlt sich moralisch sehr falsch an, russische Touristen in den Straßen europäischer Städte flanieren zu sehen, während Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Aber die negativen Auswirkungen der Aussetzung des Visa-Abkommens mit Russland – was Reisen für russische Reisende in die EU erheblich erschwert – überwiegen dennoch dessen moralische Vorteile.

Denn anzunehmen, eine solche Visa-Sperre würde den öffentlichen Druck auf die russische Regierung erhöhen und so vielleicht gar einen Wandel in der Politik erzwingen, ist reines Wunschdenken.

Schließlich kann es sich nur weniger als ein Drittel der russischen Bevölkerung überhaupt leisten, ins Ausland zu reisen, und wer es tut, reist meist gar nicht in die EU. Reisen können vor allem Angehörige der urbanen oberen Mittelschicht – also genau diejenigen, deren Einfluss auf die Politik die russische Regierung seit den massiven Demonstrationen von 2011 und 2012 erfolgreich in Schach hält. Die Aussetzung des Visa-Abkommens stigmatisiert zudem alle Rus­s:In­nen – und spielt so exakt in die Hände der russischen Staatspropaganda, die den Westen ohnehin als grundsätzlich russophob bezeichnet.

Visa für alle Bür­ge­r:In­nen einer Nation zu beschränken, ist darüber hinaus eine beispiellose Entscheidung. Sie wird von der russischen Staatspropaganda in Drittländern genutzt werden, um die EU als Trutzburg von Privilegierten darzustellen, die Außenstehende generell ablehnen und versuchen, sie fernzuhalten.

Die EU-Länder hätten stattdessen zum Beispiel die Möglichkeit gehabt, weiter individuelle Reisebeschränkungen für Stellvertreter der russischen Regierung auszusprechen, anstatt das Visa-Abkommen ganz auszusetzen. Auch andere, weitergehende Restriktionen wären durchaus denkbar gewesen.

Die jetzt getroffene Entscheidung schadet hingegen leider nicht nur sehr vielen Russen:Innen, sondern auch vielen Menschen in der EU.

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