debatte: Nicht im Stich lassen
Wem die Zukunft und Sicherheit Israels am Herzen liegen, muss sich jetzt klar an die Seite der demokratischen Zivilgesellschaft Israels stellen
Ein Jahr nach den Terrorangriffen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel befindet sich das Land angesichts äußerer und innerer Bedrohungen in der schwersten Krise seit der Staatsgründung. Die deutsche Solidarität mit Israel muss jetzt denjenigen Kräften im Land gelten, die sich für eine demokratische und friedliche Zukunft für alle Israelis und Palästinenser:innen und die Region einsetzen.
Nach den Angriffen vom 7. Oktober 2023, bei denen 1.200 Menschen ermordet und 250 verschleppt wurden, bewies die israelische Zivilgesellschaft Resilienz und Zusammenhalt. In Ermangelung staatlicher Hilfe kümmerten sich zivilgesellschaftliche Initiativen um die humanitäre Versorgung der Terrorüberlebenden und Evakuierten, erstellten Listen von Vermissten und Geiseln. Darunter waren Gruppen wie „Bonot Alternativa“ („Frauen bauen eine Alternative“), die monatelang gegen den antidemokratischen Justizumbau der Netanjahu-Regierung demonstriert hatte und nun ihre Netzwerke nutzte, um schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten. In Rahat arbeiteten jüdische und palästinensische Israelis Hand in Hand, um ein Nothilfezentrum aufzubauen.
Ein Jahr später werden immer noch mehr als 100 Geiseln im Gazastreifen festgehalten und 100.000 Israelis aus dem Norden und Süden des Landes sind auf unbestimmte Zeit evakuiert. Im Gazastreifen wurden bei Angriffen des israelischen Militärs nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums über 42.000 Menschen getötet, 1,1 Millionen leiden unter „katastrophalem Hunger“. Eine weitere regionale Eskalation hat begonnen: Die Hisbollah, Iran und die Huthi-Milizen haben ihre Angriffe auf Israel intensiviert und töteten zuletzt in Kirjat Schmona zwei Zivilist:innen, in Madschal Schams zwölf Kinder und Jugendliche. Israel hat nach Angaben des Militärs die Bodenoffensive in Libanon begonnen, um gegen Hisbollah-Stellungen vorzugehen. Bei israelischen Luftangriffen auf den Libanon wurden mehr als 2.000 Menschen getötet. Währenddessen durchlaufen Verhandlungen für einen Waffenstillstand wiederkehrende Kreisläufe aus Hoffnung und Enttäuschung. Kritiker:innen werfen Netanjahu vor, ein „Meister der Scheinverhandlungen“ zu sein.
Im Schatten des Krieges hat sich die Lage im besetzten Westjordanland dramatisch verschärft: Siedlergewalt gegen palästinensische Gemeinden erreichte bereits 2023 einen Höchststand und hat seit Beginn des Krieges weiter zugenommen. Unterdessen hat die israelische Regierung sämtliche Befugnisse für die Verwaltung der besetzten Gebiete von der Armee auf einen zivilen Regierungsvertreter übertragen. Dies kommt einer Annexion gleich.
Außerdem investiert die Netanjahu-Regierung in noch nie dagewesenem Ausmaß und trotz Haushaltskürzungen in den Ausbau der völkerrechtswidrigen Siedlungen, während sich Bewohner:innen von am 7. Oktober 2023 angegriffenen Städten wie Sderot im Stich gelassen fühlen.
Maja Sojref ist seit 2023 Geschäftsführerin des New Israel Fund (NIF) Deutschland e. V. Sie schloss 2016 den MPhil Modern Middle Eastern Studies an der Universität Oxford ab und arbeitet seither an der Schnittstelle von Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft. Sie war unter anderem als Projektleitung im israelisch-palästinensischen Jugendaustausch am Willy Brandt Center in Jerusalem sowie als strategische Beraterin in der politischen Kommunikation in Berlin tätig.
Innerhalb Israels treibt die Regierung die Erosion der Rechtsstaatlichkeit sowie die Zerstörung demokratischer Strukturen weiter voran. Auch kommt es seit Beginn des Krieges verstärkt zu Einschränkungen von Versammlungs- und Meinungsfreiheit, was palästinensische Bürger:innen in besonderem Maße trifft. Laut der Bürgerrechtsorganisation Adalah,gibt es Hunderte palästinensische Israelis, die nach Postings in sozialen Medien, die fälschlicherweise als Ausdruck der Unterstützung für die Hamas gewertet wurden, ihre Anstellung verloren, von Universitäten suspendiert oder sogar von Polizei oder Inlandsgeheimdienst verhört und verhaftet wurden. Im Juli erlangten Berichte über Folter und sexuelle Gewalt gegen palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen internationale Aufmerksamkeit.
Israel steht am Scheideweg. Wird der einzige jüdische Staat der Welt eine Demokratie sein, in der, so wie es die Unabhängigkeitserklärung verspricht, alle Bürger:innen gleichberechtigt leben können? Oder werden diejenigen Kräfte die Oberhand gewinnen, die allein die Interessen der Siedler:innen vertreten? Wird es gelingen, zu einem politischen Prozess zur Regelung des Konfliktes zurückzukehren? Oder werden Israelis, Palästinenser:innen und die gesamte Region noch mehr Gewalt und Leid durchleben müssen?
In Deutschland fühlen sich viele Menschen mit Israel verbunden, ob aus der historischen Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen oder aufgrund persönlicher Beziehungen zu den Menschen im Land. Diese Solidarität ist wichtig. Doch was heißt es, angesichts existenzieller Bedrohungen für Israel solidarisch zu sein?
Für mich heißt es, zivilgesellschaftliche Akteur:innen zu unterstützen, die für ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln kämpfen, Terrorüberlebende und Binnenevakuierte versorgen, Menschen- und Bürgerrechte verteidigen, sich für jüdisch-palästinensische Partnerschaft und eine friedliche und gleichberechtigte Zukunft einsetzen. Meine Solidarität gilt nicht den Siedlergruppen und Minister:innen der Regierung, die eine weitere Eskalation der Gewalt in Kauf nehmen oder konkrete Pläne für die israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens verfolgen.
Denn der 7. Oktober 2023 hat auf tragische Weise gezeigt, dass die Strategie, die Besatzung zu normalisieren und jegliche Bestrebungen für palästinensische Selbstbestimmung zu unterminieren, keine Sicherheit bringt. Dies können nur eine Waffenruhe, die Freilassung der Geiseln, und das Ende der Besatzung.
Wem also die Zukunft und Sicherheit Israels am Herzen liegen, muss sich jetzt klar an die Seite der demokratischen Zivilgesellschaft Israels stellen, das heißt an die Seite derjenigen, die für eine demokratische und friedliche Zukunft für alle Israelis, Palästinenser:innen und die gesamte Region kämpfen.
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