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debatteGünstige Gelegenheit

Trotz Tarifabschluss bleibt der Pflegenotstand. Aber die Wut über „die da oben“ könnte in soziale Kämpfe für einen wirklichen Umbau umgewandelt werden

Stefan Kerber-Clasen, geboren 1984, ist promovierter Soziologe und forscht am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg zur Entwicklung von Arbeit und zu Arbeitskonflikten in der Sorgearbeit.

Tarifkampagnen sind in Deutschland meistens ziemlich lahm. Aber vergangene Woche schlängelte sich der Demonstrationszug überraschend lang durch die Innenstadt Hannovers. Im Mittelpunkt standen die Pflegekräfte der Universitätskliniken, die die Intensivstationen unter widrigen Bedingungen am Laufen halten. Kaum setzte der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Werneke dazu an, die finanzpolitischen Argumente der Arbeitgeberseite zu entkräften, wird er unterbrochen: „Notsituation auf der Corona-Intensivstation der medizinischen Hochschule Hannover. Die streikenden Kolleg_innen bitte zum roten Pavillon, dort Lagebesprechung und dann zurück in den Dienst!“ Der Unmut nimmt zu. Eine junge Rednerin lässt ihrer Wut über das kaputte Krankenhaussystem, das dafür verantwortlich ist, dass ihre Kolleg_innen aus dem Streik zurück auf die Station spurten müssen, und darüber, dass von Menschenwürde im Krankenhaus oft nicht viel übrig bleibe, freien Lauf.

Wäre es nicht eine Tarifrunde des öffentlichen Dienstes der Länder, man hätte denken können, gleich werde das Finanzministerium besetzt. In der aktuellen Situation scheint das gar nicht so fernliegend. Denn dass eine ganz andere politische Antwort auf die gegenwärtige Misere des öffentlichen Dienstes notwendig ist, daran zweifelt hier niemand. Doch trotz radikal verschärfter Coronalage ist wieder keine progressive Perspektive in Sicht. Offensichtlich wird Deutschland nicht aus Schaden klug, sondern durch Kritik und politisches Handeln: Hierzu ist es allerdings notwendig, die Kritikperspektive richtig zu justieren und die eigenen Kräfte zu fokussieren.

In der aktuellen Situation bedeutet dies vor allem, die Frage nach den Grenzen der Behandlung auf den Intensivstationen nicht allein als „Schuld“ der Ungeimpften zu diskutieren, sondern – im Einklang mit der Gewerkschaftsposition – als politisch zu verantwortendes Problem: Die Notlage der Intensivstationen und der Krankenhäuser genauso wie der Fachkräftemangel und der Rückzug vieler Beschäftigte aus dem Beruf sind in Kauf genommene Ergebnisse konkreter Politik. Es ist daher nicht eine erneute Ausnahme­situation in den Krankenhäusern zu beobachten, sondern eine Verschärfung der zur Normalität gewordenen Notlage.

Der Frust und die Wut über Einschränkungen im Alltag, nur beschränkt wirksame Impfungen oder unzureichenden Schutz von Kindern können auch in eine progressive Perspektive einfließen. Und nichts bietet sich dazu aktuell mehr an als der Kampf für eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems. Jetzt könnte der Zeitpunkt gekommen sein, das politische Potenzial des vielfach als bloß naiv oder symbolisch-alibimäßig belächelten massenhaften Applauses von den Balkonen in der ersten Coronawelle zu entfalten und zu organisieren. Denn mehr denn je verdichten sich im Gesundheitssystem die kurz- und längerfristigen politischen Entscheidungen zu einem katastrophalen Ergebnis – mit gravierenden aktuellen gesellschaftlichen Konsequenzen (Überlastung, Triage, Tod) und darüber hinaus (Traumata, Burn-out, Berufswechsel, Verlust des Vertrauens in das Gesundheitssystem).

Doch nirgends, auch nicht im Koalitionsvertrag, ist unter den Regierenden auszumachen, dass der politische Wille besteht, künftig anders zu handeln. Es wäre aber eine Chance, aus der Pandemie etwas gesellschaftlich Positives zu schaffen – nämlich erste verbindliche Schritte zu einem bedürfnisorientierten, arbeitsfreundlichen, demokratischen Gesundheitssystem zu unternehmen. Die kommenden Wochen sind hierfür, auch wenn es zynisch klingen mag, günstig. Die Katastrophe auf den Intensivstationen wird noch viel zu lange anhalten; die Tarifrunde der Länder ist zwischenzeitlich mit einem Teilerfolg für die Pflegekräfte abgeschlossen worden. Und eine neue Regierung mit neuer Gesundheitsminister_in und neuem Finanzminister steht von Anfang an unter Handlungs- und Legitimationsdruck.

In den Krankenhäusern ist eine Verschärfung der zur Normalität gewordenen Notlage zu beobachten

Der berechtigte Frust und die Wut über „die da oben“ und über die Impfverweigerer könnte sich in Energie verwandeln, das Gesundheitssystem gemeinsam mit den seit Jahren aktiven Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser Charité und Vivantes und anderer Krankenhäuser, die für bessere Personalstandards und weniger belastende Arbeitsbedingungen kämpfen, gründlich umzukrempeln. Dazu kommen soziale Bewegungen, die diese Kämpfe als Krankenhausbewegung und als im „Care-Revolution-Netzwerk“ zusammengeschlossene feministische Gruppen und linksradikale Aktivisten unterstützen. Es wären nicht nur Kämpfe der Beschäftigten, sondern Kämpfe, die angesichts der Arbeitsüberlastung vieler Pflegekräfte von anderen gesellschaftlichen Gruppen mitgetragen werden müssten.

Was in der Theorie schon lange klar ist, könnte in der Praxis endlich konkret werden. Das Gesundheitssystem geht alle an, und seine Umgestaltung ist nicht Aufgabe allein der Beschäftigten in der Pflege. Die Kundgebung in Hannover hat Mut gemacht, dass viele gewerkschaftlich aktive Menschen bereit sein dürften, für die Pflegekräfte einzustehen – auch nach der Tarifrunde. Denn die Tarifabschluss hat zwar gezeigt, dass Verbesserungen erstritten werden können. Andererseits hat er die Hauptprobleme in der Pflege kaum berührt. Und noch etwas lag in der Luft: ein Bedürfnis nach kollektivem politischem Handeln. Während die Coronakrise und das Impfen radikal individualisiert erlebt werden und auch die neue Bundesregierung wenig Anlass bietet, auf eine andere Politik zu hoffen, sind Kämpfe um ein besseres Gesundheitssystem vielversprechend: Die Missstände sind offensichtlich, alle sind potenziell betroffen, und die Kämpfe müssen nicht bei null starten. Wenig ist für gesellschaftliche Veränderungen in Deutschland mutmachender als ein Massenprojekt, wie es an jenem Mittwoch in Hannover zu erahnen war.

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