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debatteAußenpolitische Leerstelle

Sicherheitspolitik und Europa spielten im Wahlkampf kaum eine Rolle – mal wieder. Dabei geht bei Digitalisierung und Klima ohne Brüssel nicht viel

Florian Ranft leitet den Programmbereich Strukturwandel des Berliner Thinktanks (Denkfabrik) Progressives Zentrum. Zuvor hat er beim Londoner Thinktank „Policy Network“ gearbeitet und an den Universitäten in Frankfurt am Main und Greifswald in den Bereichen politische Soziologie und internationale Politik gelehrt und geforscht.

Außenpolitische Themen haben im zurückliegenden Wahlkampf praktisch nicht stattgefunden. Dabei hat es in der deutschen Politik und Öffentlichkeit ein eklatantes Missverhältnis zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung gegeben – wieder einmal, möchte man sagen. Schon im Wahlkampf 2017 überwog in Politik und Medien die Binnensicht auf die drängenden Fragen der Zeit. Themen wie Europa oder Sicherheitspolitik tauchten nur in Fußnoten auf. Das Besondere war diesmal, dass dies angesichts eines beachtlichen internationalen Interesses an der Wahl in Deutschland geschah. Es empfiehlt sich ein Blick in die Kommentare der interna­tio­nalen Presse, um zu begreifen, welche Bedeutung dieser Wahl zugeschrieben wird. In Paris, Washington, Moskau und Peking fragt man sich, wohin das Land und Europa nach der Ära Merkel international hinsteuern werden.

Ja, mit Außenpolitik sind offenbar keine Wahlen zu gewinnen, und bei Themen wie etwa der Flüchtlingskrise beschäftigen sich im Wahlkampf 2017 Politik und Öffentlichkeit zu sehr mit den Folgen und zu wenig mit den Ursachen. Jedoch war dieses Wahlkampfjahr nicht arm an außenpolitischen Ereignissen – und somit an Vorlagen für Debatten. Der Truppenabzug aus Afghanistan, die Instabilität Malis oder der U-Boot-Deal mit Australien waren Schlagzeilen, zu denen eine breite öffentliche Debatte über die Positionen der Parteien gerechtfertigt gewesen wäre. Auch EU-Themen wie der Schutz des Rechtsstaats in Polen und Ungarn, Europas „Green New Deal“ oder Stabilisierungsmaßnahmen der Eurozone, landläufig „gemeinsame Schulden“ genannt, hätten eine inhaltliche Auseinandersetzung verdient. Die Tagespolitik böte in Wahlzeiten einen Anstoß für grundsätzliche Debatten über die Positionen der Parteien: Wie halten sie es mit internationalen Bündnissen und Organisationen und gemeinsamen Werten in Europa und der Welt? Aber eine tiefgreifende Debatte hat gefehlt.

Die Gründe dafür sind zweierlei. Erstens lässt sich aus deutscher und europäischer Perspektive der Eindruck gewinnen, dass sich die Welt mit der Abwahl Trumps in eine scheinbar neue internationale Übersichtlichkeit gefügt hat. Vorbei ist – vorerst – eine Zeit der US-amerikanischen Willkür, in der einer der wichtigsten Verbündeten die eigenen Partner in Europa und Nato auf internationalem Parkett düpiert und für unantastbar gehaltene internationale Normen missachtet hat. Mit US-Präsident Biden ist in internationalen Fragen wieder mehr Verlass auf die Vereinigten Staaten, so die geläufige Meinung. Das Fahrwasser in der internationalen Politik scheint somit ruhiger geworden zu sein. Zudem verbinden Deutschland und Europa mit der Biden-Regierung ein gemeinsames Wertefundament, das Bekenntnis zu internationalen Organisationen und die Betonung der Gestaltungskraft von Diplomatie. Scheinbar – da war ja noch ein überhasteter und mit den engsten Bündnispartnern nicht abgestimmter Abzug aus Kabul. Vergessen wird zugleich auch, dass Deutschland und die EU im Systemwettbewerb zwischen den USA und China Zaungast sind. Dies verdeutlicht das ohne Wissen der Nato-Partner ausgehandelte U-Boot-Abkommen zwischen Australien, Großbritannien und den USA. Frankreich wurde in letzter Minute ausgebootet.

Für Australien und die USA geht es im Kern um sicherheitspolitische und nicht wirtschaftliche Interessen. Ziel ist es, Chinas militärischen Einfluss im Indopazifik in Schach zu halten. Im Zweifel werden auch zukünftig sicherheitspolitische Überlegungen in Asien Vorrang gegenüber europäischen Bündnispartnern haben.

Zweitens sind seit Beginn der Coronapandemie die sozioökonomischen Herausforderungen und die Handlungsfähigkeit des Staates stärker ins Zentrum des Bewusstseins der Öffentlichkeit gerückt. Bei der Frage nach den wichtigsten Problemen des Landes hat sich die Bedeutung von Themen wie Terrorismus oder Einwanderung laut dem Eurobarometer im Zeitraum von Herbst 2019 bis Frühjahr 2021 etwa halbiert. Das spiegelte sich in Teilen im Wahlkampf wider. Olaf Scholz etwa trat zwar mit einem Themendreiklang aus „Zukunft. Respekt. Europa.“ an – substanzielle Debatten und Reden zur Europapolitik hat man jedoch in seinem Wahlkampf vermisst. Doch gerade bei den wichtigsten Zukunftsfeldern Digitalisierung und Klima geht ohne Brüssel nicht viel.

Die außenpolitische und europapolitische Leerstelle kann von einer neuen Bundesregierung als Chance verstanden und genutzt werden. So bietet sich ein ausreichend großer Gestaltungsspielraum für einen Paradigmenwechsel. Es muss darum gehen, die Durchsetzungsfähigkeit der deutschen und europäischen Außenpolitik im Systemwettbewerb mit Autokratien zu stärken. In Zeiten von Klimakrise, gesellschaftlicher Konkurrenz mit Autokratien und technologischem sowie wirtschaftlichem Wettbewerb sollte eine wertebasierte Außenpolitik auf einer Systemtrias aus offener Gesellschaft, demokratischen Werten und Institutionen sowie sozialer Marktwirtschaft setzen.

Eine Neujustierung der Außenpolitik ist nötig und könnte Teil einer sozial-liberal-ökologischen Erneuerung sein

Um offensiv und selbstbewusst gegenüber Staaten wie China oder Russland auftreten zu können, gehört mehr Transparenz in die Wirtschaft, um mögliche Einflussnahmen autokratischer Kräfte offenzulegen. Des Weiteren muss die Korruption eingedämmt werden. Die gezielte Einflussnahme Aserbaidschans auf europäische Po­li­ti­ke­r:in­nen ist dafür ein erschreckendes Beispiel. Als weiteres probates Mittel kann sich die Diversifizierung der deutschen Exportwirtschaft erweisen, um sich von Ländern wie China unabhängiger zu machen und somit der Durchsetzung von europäischen Interessen etwa bei den Menschenrechten mehr Kraft zu verleihen.

Um all dies umzusetzen, bedarf es einer Neujustierung der Außenpolitik. An der hat es in 16 Jahren Merkel gefehlt und sie könnte jetzt Teil einer sozial-liberal-ökologischen Erneuerungsagenda werden.

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