barbara dribbusch über Gerüchte: Die Brötchenfrage
Sozialmissbrauch! Meine Freundschaft mit Gaby wurde dadurch ruiniert
Jeder Mensch, glaube ich, hat seine unsozialen Momente. Momente, in denen man weiß: Jetzt tue ich was Asoziales. Wenn das jeder so machen würde … Kant’scher Imperativ! Bei mir ist das immer die Sache mit den Brötchen. Im Supermarkt.
Auch gestern hatte ich wieder dieses verbotene Gefühl, als ich bei MiniMal vor der Box aus Plexiglas stand, in der sich die frisch gebackenen Brötchen tummelten. Sie kennen das vielleicht. Auf der Box klebt ein Schild: „Bitte entnehmen Sie die Brötchen aus hygienischen Gründen mit der Zange.“ Daneben baumelt an einer feinen Kette die Zange. Man soll dieselbe durch die Öffnung stecken und dann mit viel Geschick die Brötchen packen und nacheinander herausfummeln. Mit der bloßen Hand geht das Herausholen viel einfacher, aber dabei berührt man vielleicht ein anderes Brötchen, das dann von einem anderen Kunden gekauft wird … also: Zange oder Hand? Eine Frage der Sozialhygiene!
Schon keimte in mir die bekannte Gefühlsmischung auf: Schuld. Scham. Lust am Asozialen. Viele Leute kennen dieses Gefühl, aus jungen Jahren, als beispielsweise noch der Ladendiebstahl als Mutprobe galt. Ich selbst hatte auch mal zwei der roten und ein grünes Suhrkamp-Bändchen, die sich mit dem Wahnsinn unserer Gesellschaft befassten, unter meine Jacke geschoben. Doch dann schien mir, als hätte mich der bebrillte Herr hinter dem Regal genau beobachtet. Unauffällig, aber mit schwitzender Hand stellte ich die Bändchen im nächsten Gang wieder zurück. Mein Nervenkostüm ist einfach zu dünn.
Die Asoziale Frage hat sich ohnehin verändert mit den Jahren. Damals, in den frühen 80ern, war es zum Beispiel völlig üblich, dass Leute wie Ottfried eine einjährige Auszeit vom stressigen Jobleben nahmen. Ottfried hatte Betriebswirtschaft studiert und es geschafft, sich für alle Jobangebote als ungeeignet zu präsentieren. Jeden Abend stand er neben der Eingangstür des Szenelokals „Dschungel“ in Berlin, sein von der Versichertengemeinschaft finanziertes Weizenbier in der Hand. Ein warmherziger, immer zum Plaudern aufgelegter Mensch, das war Ottfried.
Das Wort „Sozialmissbrauch“ kannte man damals noch nicht. Niemand hätte das Wort in den Mund genommen. Bei Ottfried nicht und bei meiner Bekannten Kirsten auch nicht. Kirsten war allein erziehend mit zwei Kindern. Das Sozialamt zahlte ihren Lebensunterhalt. Offiziell lebte Kirsten in Berlin, in Wirklichkeit jedoch hatte sie auf Ibiza eine Boutique aufgemacht.
Aber irgendwann mal fing die Soziale Sache an zu kippen. Ich weiß noch, es war vor etwa neun Jahren. Sozialmissbrauch! Meine Freundschaft mit Gaby wurde dadurch ruiniert. Gaby war frisch mit Klaus liiert. Klaus war damals 49 Jahre alt, in einer Sozialbehörde tätig und ließ sich „aus gesundheitlichen Gründen“ früh verrenten. Der Arzt in Berlin-Wilmersdorf attestierte ihm einen kranken Magen und Depressionen, dabei schichtete Klaus in Gabys Ökoladen im Lagerraum munter die Bio-Tomaten aufeinander. Kurz nach seinem Wechsel in die Frührente luden Gaby und Klaus meinen Freund Christoph und mich ein, zu einem Kaffee am Sonntagnachmittag auf ihrem Laubengrundstück. Christoph weigerte sich.
„Klaus ist mir unangenehm geworden“, sagte Christoph zu mir, „Frühverrentung! Mit 49. Ich finde, man muss jetzt mal ehrlich sein. Ich find’s eigentlich zum Kotzen.“ Ich fuhr damals trotzdem hin, ich war noch in der Lebensphase, in der man glaubt, dass Ehrlichkeit immer das Richtige ist. Auf die Frage, warum Christoph nicht mitgekommen sei, sagte ich später dann: „Ich will jetzt mal ehrlich sein, Klaus. Christoph findet es irgendwie nicht gut, dass du dich frühverrenten hast lassen. Die ganzen Tricks mit dem Arzt und so.“ Es folgte eine lange Stille, in der nur das Rühren der Kaffeelöffel zu hören war. Den Fortgang des Gesprächs will ich nicht wiedergeben. Gaby meldete sich nie wieder.
Heute ist alles ein bisschen anders. Klaus würde heute nicht mehr so leicht die Frühverrentung bekommen. Ottfried ist schon lange bei einem Telekommunikationsunternehmen in Lohn und Brot. Kirsten hat mit ein paar Leuten eine Kneipe aufgemacht und soll eine sehr strenge Chefin sein.
Für mich jedenfalls ist die Asoziale Frage auf das Brötchenproblem zusammengeschnurrt. Heute ist kein Tag für die Zange. Gezielt hole ich mit der bloßen Hand vier Brötchen aus der Plexiglas-Box. Die Brötchen, die ich nicht kaufen will, fasse ich auch nicht an. Außerdem habe ich saubere Hände. Meistens jedenfalls. Ein alter Mann tritt hinter mich. Ich drehe mich irritiert um. „Schon gut, junge Frau“, sagt er begütigend, „ich mach es genauso.“
Noch Fragen?kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen