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Zwischen Gewalt und Idylle

Pit Wuhrer kennt Nordirland seit Jahrzehnten. Sein neues Buch über den Konflikt ist klug und liest sich gut

„Man soll in Nordirland nie das Erwartbare erwarten“, schreibt Pit Wuhrer am Schluss seines Buches Die Trommeln von Drumcree. „Und wer weiß, vielleicht wird ja auch alles gut.“ Aber so recht glaubt Wuhrer selbst nicht daran, denn Nordirland sei „in dieser Zeit des Friedens gespaltener denn je“. Wuhrer entwirft vier Zukunftsszenarien für die britische Krisenprovinz, die sich zwischen einem vereinten Irland in zehn bis zwanzig Jahren und dem Absturz ins Bodenlose mit einer neuen Gewaltspirale bewegen. Für wahrscheinlicher hält er allerdings, dass vorläufig Ruhe in Nordirland einkehrt, bis die nächste Generation in zehn Jahren zu den Waffen greift. Das vierte Szenario: die große Integration über den Markt mit dem Niedergang der Nationalstaaten.

Pit Wuhrer, 50, ist Redakteur der Züricher Wochenzeitung (WoZ). Seit Jahrzehnten reist er regelmäßig nach Nordirland und recherchiert auf allen Seiten des Konflikts, der schon 3.600 Menschen das Leben gekostet hat. Bisher war bei seinen Recherchen das Buch „Sie nennen es Trouble“ herausgekommen, das 1989 erschienen ist. So war es an der Zeit für einen Folgeband.

Wuhrer, der Nordirland besser kennt als die meisten deutschsprachigen Journalisten, beginnt mit einem „notwendigen Rückblick auf vierhundert Jahre“, der deshalb notwendig ist, weil „Wahrnehmungen unter Umständen bedeutsamer sind als Fakten und zur politischen Kraft heranwachsen können“. Mit diesem Rückblick als Fundament untersucht Wuhrer die verschiedenen Facetten und politischen Umstände, die seit 1969 den Konflikt bestimmen: „Handelte es sich um einen Religionskrieg?“, fragt Wuhrer. „Um einen antikolonialen Befreiungskampf? Um einen Verfassungskonflikt? Um einen Bürgerkrieg? Oder vielleicht doch um nackten Terrorismus?“ Da der Charakter des Konflikts umstritten sei, habe sich der Begriff Troubles eingebürgert – ein Wort, das sich am ehesten mit „Ärger, Schwierigkeiten, Unruhe“ übersetzen lasse. „Wer Trouble mit der Bank hat, steckt wahrscheinlich in Geldnöten; ein junges Mädchen in Trouble erwartet ein Kind; und wenn die Leber Trouble macht, sollte man die Pubs besser meiden. Angewandt auf eine der längsten militärischen Auseinandersetzungen in der Geschichte, klingt der vage Begriff Troubles harmlos, und doch umschreibt er ziemlich genau den merkwürdigen Zustand zwischen Krieg und Normalität, zwischen Gewalt und Idylle, der den Konflikt kennzeichnet.“

Wuhrer ist Journalist, kein Historiker, und das ist ein Glück. Das Buch ist überaus informativ und dabei alles andere als langweilig. Der Autor versteht es, die Absurditäten des politischen Alltags auf den Punkt zu bringen, wie in der Titelgeschichte über die protestantische Belagerung einer katholischen Straße – Untertitel: „Protestantische Passionsspiele in sechs Gängen“. Mal basiert eine Reportage auf einem Interview mit dem Loyalisten Gusty Spence, „dem Mann, der den Krieg begann“. Dann kommt der frühere IRA-Mann Tommy McKearney zu Wort, der 17 Jahre im Gefangenenlager Long Kesh saß, während seine drei Brüder bei dem Konflikt starben.

Wo Wuhrers eigene Sympathien liegen, steht außer Frage: Er analysiert den Nordirland-Konflikt von einem linken Standpunkt aus und thematisiert soziale Fragen, die die gesamte nordirische Gesellschaft betreffen: „Von 1979 bis 1999 stieg die Zahl der Menschen, die über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügten, von neun auf 24 Prozent.“

Sinn Féin, der politische Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), werde daran nichts ändern, glaubt Wuhrer, da die ehemaligen Kämpfer sich längst an die „Fleischtöpfe“ des nordirischen Staatengebildes begeben haben: „Von daher ist klar, welche Politik von Sinn Féin künftig zu erwarten ist: sicherlich keine, die den unterprivilegierten und vom Krieg am meisten betroffenen ArbeiterInnen dient.“ Wuhrer wundert sich über die Leichtigkeit der Wandlung, weil es doch erstaunlich sei, „wie mühelos sie selbst höchste Positionen eines Staates bekleiden, den sie bis vor kurzem noch mit der Bombe in der Hand bekämpft haben – und das, obwohl sie keines ihrer Ziele erreicht haben. Was genau den nahtlosen Übergang vom Guerillakampf zur hohen Politik und Geheimdiplomatie bewirkt hat, ist bisher nicht untersucht worden.“

Wer sich für Nordirland interessiert, kommt an Wuhrers Buch, dem ein nützliches Glossar und eine Zeittafel angefügt sind, nicht vorbei. RALF SOTSCHECK

Pit Wuhrer: „Die Trommeln von Drumcree. Nordirland am Rande des Friedens“, Rotpunktverlag 2000, 36 DM

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