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Zweitligist Kiel am letzten SpieltagHolsteinischer Höhenflug

Gegen Darmstadt gelingt den Kieler Fußballern der Aufstieg in die Bundesliga nicht. Nun müssen die „Störche“ gegen den 1. FC Köln in die Relegation.

Hatten den längsten Atem: Kieler Ultras am Sonntag vor dem Stadion Foto: Gregor Fischer/dpa

Kiel taz | Erst eine, dann zwei: Raketen fliegen hoch über den Köpfen von mehr als tausend Fans. Ihr Heulen erschüttert der laute Knall eines Riesenböllers. Ultras schwenken Bengalos und Rauchfackeln in Blau, Rot und Weiß – die Farben von Holstein Kiel. Um sie herum stehen dicht beieinander weitere Fans in blau-weiß-roten Schals und Trikots.

Hier draußen, vor dem Ost-Eingang des Stadions, wird also die Liebe zum Verein skandiert. Drinnen spielen die geliebten „Störche“ gerade gegen den SV Darmstadt. Jetzt gerade brandet der Jubel draußen aber nicht wegen der Fußball-Zweitligabegegnung auf: Über Handy haben Fans mitbekommen, dass, hunderte Kilometer entfernt, Düsseldorf gegen Fürth führt.

Das ist gut für Kiel, denn die Sportvereinigung Holstein von 1900 konkurriert mit der Spielvereinigung Greuther Fürth um den direkten Aufstieg in die erste Liga.

Was die Masse vor dem Stadion gerade noch nicht weiß: Darmstadt hat zeitgleich das 2:1 gegen Kiel geschossen. Viele, die gerade gejubelt haben, wissen gar nicht, warum. Einige glauben sogar, es habe ein Kieler Tor zu feiern gegeben – bis sie bemerken, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Solange aber Fürth verliert, ist es fast egal, wie gut Kiel spielt. Alles in Ordnung – für den Moment.

Begeisterung nicht selbstverständlich

Es sind keine idealen Umstände vor dem Stadion. Nicht für den Infektionsschutz und auch nicht um das Spiel zu verfolgen. Die Allermeisten tun dies über Handy-Liveticker. Ein paar besonders gut Vorbereitete sitzen vor der Autowaschanlage der Shell-Tankstelle direkt nebenan und sehen die Fernsehübertragung auf ihrem Tablet, während sie in Ruhe ihr Bier trinken.

Es ist ein erstaunlicher Weg, den Holstein Kiel in den letzten zehn Jahren genommen hat, um jetzt an diesem Punkt zu sein. Denn dass über tausend Fans vor dem Stadion mitfiebern, ob Kiel der direkte Aufstieg oder zumindest die Relegation gelingt, ist nicht selbstverständlich. Kiel ist eine Handballstadt, fest im Griff des erfolgreichsten deutschen Vereins THW. Holstein Kiel spielte bis vor gar nicht langer Zeit noch in der Regionalliga Nord.

Genau da hat der Wandel begonnen: 2007 modernisierte der Verein seine Strukturen. Kurze Zeit später, im August 2009, suchten die Verantwortlichen einen neuen Geschäftsführer und fanden ihn ausgerechnet in Wolfgang Schwenke, einem ehemaligen Kieler Handballprofi und -trainer.

Der studierte Betriebswirt stimmte zu – unter der Bedingung, dass er sich nur ums Geschäftliche kümmern würde. Als Handballer traute er sich nicht die Kompetenz zu, die sportlichen Fragen zu entscheiden, sagt er der taz. Deshalb gebe es seitdem einen kaufmännischen und einen sportlichen Leiter im Verein.

Die Aufteilung der Kompetenzen, zusammen noch mit dem Präsidenten, der für die Infrastruktur zuständig sei, sorge für enges Zusammenarbeiten auch mit dem Aufsichtsrat: „Wir nehmen uns auch alle immer gegenseitig mit in unseren Arbeitsfeldern. Der Austausch untereinander ist sehr gut.“ Außerdem gebe es so „kurze Entscheidungswege und nur der Aufsichtsrat ist über uns. Deshalb gibt es kaum interne Unstimmigkeiten“, sagt Schwenke. Und: „Es passt menschlich.“

Nachhaltig Investiert

Mit dem Aufbau eines Nachwuchsleistungszentrum und dem Ausbau des Stadions investierten die bis auf Schwenke immer mal wechselnden Verantwortlichen nachhaltig in den Verein. Dieser in der vierten Liga gelegte Grundstein sorgte 2013 für den Aufstieg in die 3. Liga, 2017 schaffte Holstein es in die 2. Liga – und klopft nun zum zweiten Mal an die Tür der Bundesliga. In der Vorwoche allerdings hatte man die Chance auf den Aufstieg nicht genutzt.

Bereits in der ersten Zweitligasaison stand die Mannschaft auf dem Relegationsplatz, verlor aber gegen Wolfsburg. Eine Zahl verdeutlicht den Aufstieg des Vereins in der Stadt: „Als ich angefangen habe, hatten wir 200 Dauerkarten“, erzählt Schwenke. „Jetzt sind es 7.000.“

Knapp 1.500 von deren Inhabern sind zur entscheidenden Begegnung gegen Darmstadt gekommen. Andere Fans sind in Stadionnähe und verfolgen das Spiel in geöffneter Außengas­tronomie; darunter eine sechsköpfige Gruppe, die mit dem Holstein-Spieler Joshua Mees bekannt und extra aus dem Saarland angereist ist.

Vor dem „Chill Out Club Palenke“ sitzen die Sechs auf Bänken, springen kollektiv auf, als in der 18. Minute der Führungstreffer für Kiel fällt. Es sieht gut aus, denn Fürth kassiert noch in der ersten Halbzeit eine rote Karte.

„Es ist brutal“

Nach der Pause kommt Kiels Einbruch. Zwischenzeitlich liegt Holstein 1:3 hinten, am Ende steht es 2:3. Christian, Luca und Meike aus Heide wussten bereits vor Anpfiff, dass die Mannschaft „auf dem Zahnfleisch geht“: Nach zwei coronabedingten Pausen musste Kiel etliche Spiele nachholen – innerhalb von vier Wochen waren neun Pflichtspiele zu absolvieren, alle drei oder vier Tage eines.

Auch Düsseldorf spielt an dem Tag nicht für Kiel. Und trotz Unterzahl gewinnt Fürth. Als die Franken in Führung gehen, verlassen viele Fans die Ansammlung vor dem Kieler Stadion. Nach 60 Minuten Feiern scheint die Luft raus. Die Ultras sind noch laut, aber wohl eher aus Frustration.

„Es ist brutal“, sagt Kiels Torhüter Thomas Dähne nachher. Und Trainer Ole Werner: „Bei uns ist es heute sehr, sehr still.“ Bei aller Niedergeschlagenheit kann Kiel noch aufsteigen. Am Mittwoch und Samstag müssen die „Störche“ in der Relegation gegen den Bundesliga-Sechzehnten 1. FC Köln bestehen.

Sollte es noch klappen, will Schwenke das „Abenteuer“ Aufstieg „wirtschaftlich gesund“ angehen: „Wir sind mit viel Demut in die 2. Liga gegangen. Mit genauso viel Demut werden wir auch an die Bundesliga herangehen.“

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