Zweiter Tag beim Bachmannpreis: Maskenspiele des Selberlebens
Virtuell hin oder her: Die Autor*innen Helga Schubert, Hanna Herbst und Christian Leitner machten aus dem zweiten Vormittag etwas Besonderes.
Der zweite Tag beim Bachmannpreis ging anders los als der erste, nämlich ganz formidabel. Mit Helga Schubert, Jahrgang 1940. Sie las vor Naturhintergrund, Bäume, Vogelgezwitscher, Sonne und Blattwerk. Schubert war Psychologin war in der DDR und schreibt seit vielen Jahren eindrückliche Texte, Geschichten, keine Romane, und mit keinen Romane wird man nur sehr schwer wirklich berühmt, Geschichten vor allem über das Leben von Frauen, auch Geschichten für Kinder, es ist allerdings schon lange kein Buch mehr von ihr veröffentlicht worden.
Helga Schubert, die schon 1980 nach Klagenfurt eingeladen war, aber nicht ausreisen durfte, ist vor Ewigkeiten nach Mecklenburg gezogen, umgeben vom Grünen.
Sie las einen Text, „Vorm Aufstehen“, der die achtzig Jahr umspannt, die sie lebt, einen Text, der weit zurückgeht, nämlich bis zu ihrer Geburt, der vom Tod ihrer Mutter erzählt, die keine gütige Frau war, ihr das Leben einmal geschenkt hat und danach gleich dreimal, worauf sie am Ende doch stolz war, nicht wieder nahm.
Die Erzählung ist von Gerüchen durchströmt, sie bewegt sich im Sprung durch die Zeit, sie berichtet von einem schwer kranken Mann, von Hennahaaren und Sartre-Lektüren, es ist ein Text mit einem sehr eigenen Ton, unprätentiös, aber bewegend in der Art, in der er sich, immer weiter Geschehenes in Erinnerung fassend, des Urteils enthält. Er hat ein schönes existenzialistisches Pathos, aber nur sehr unter der Hand.
Es ist, daran besteht und bestand auch in der Jury, kein Zweifel, ein autobiografischer Text. Womit Juror Philipp Tingler, der wohl mal ein Proseminar in Literaturtheorie besucht hat, dem aber offenbar auch das Gute im Leben zum eigenen Schaden ausschlägt, ein Problem hat, als einziger, das formulierte er als eines der vielen von ihm formulierten Credos, die die Welt und der Wettbewerb nicht braucht, schon weil er offenbar selbst nie versteht, was er da sagt: Fiktion sei für ihn sakrosankt.
Zum Glück gibts Kastberger
Zum Glück gab es Klaus Kastberger, der ihm das mit dem autobiografischen Pakt und dem komplexen Maskenspiel der besonderen Fiktion des besonders Realen beim Selberlebensbeschreiben freundlich, naja, oder auch nicht so freundlich, erklärte.
Alle liebten Helga Schubert (sogar Tingler), alle (außer Tingler) liebten den Text. Es ist sehr schwer, ihn nicht zu lieben, weil er bewegt, ich war, wie ich auf Twitter sehen konnte, nicht der einzige, der geweint hat; es ist aber auch sehr schwer, ihn nicht als autobiografische Literatur hoch zu schätzen, weil er, seine Kunst weder ausstellend noch versteckend, sich ohne Effekt zu etwas fügt, Satz für Satz, das in seiner Bewegung und seiner Wirkung das Richtige ist.
Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn Schubert mit „Vorm Aufstehen“ den Bachmannpreis nicht gewinnt.
Ein Song wie von Christiane Rösinger
Das Los meinte es nicht gut mit Hanna Herbst, fünfzig Jahre jünger als Schubert, und erst am Beginn einer absehbar großen Karriere, obwohl sie zumindest in Österreich schon einiges auf die Beine gestellt hat. Sie war als nächste dran, zeigte sich auf Twitter (@HHumorlos) nach dem Schubert-Zuhören in Echtzeit gerührt, Herz-Emoji, Tränen-Emoji, schrieb im Scherz, nach so etwas könne sie ihren Text nur zurückziehen.
Sie las dann natürlich doch, in der von der zugeschalteten Live-Herbst beobachteten Aufzeichnung, ihren eigenen Text „Es wird einmal“, der in den Motiven, Erinnerung und Verlust, weniger im Umgang damit, dem von Schubert noch dazu nicht ganz unähnlich war. Wer nach dem gekonnt komischen, sehr Christiane-Rösinger-haften Selbstporträt-Song damit gerechnet hatte, dass jetzt etwas Witziges, Leichtfüßiges kommt, sah sich getäuscht.
Dafür wurde es jedoch virtuos. „Poetry-Slam“ hieß es auf Twitter, nicht durchweg freundlich gemeint, aber es gab allen Grund, es als großes Lob zu verstehen. Eine Erzählung, sehr von heute, hellwach, die raffiniert mit Erzählperspektiven hantiert, voller funkelnder Stellen, aus scharfen Beobachtungen und Miniaturgeschichten gefügt, hoch originell im Detail, vielleicht nur in der Summe auf die aus dem Effeff beherrschten Effekte etwas zu sehr bedacht.
Was die Autorin literarisch kann
Ein Text, der selbstbewusst zeigt, was seine Autorin auch literarisch kann, und das ist offenkundig nicht wenig. Sie kann freilich auch komisch, das ist eh klar, schließlich wird sie im Herbst die Chefin vom Dienst in Jan Böhmermanns neuer Show. Es wurde noch klarer am Abend, als sie über Twitter als Reaktion auf die Rezeption gleich einen weiteren Song lancierte, der sich mit Seitenhieb auf Tinglers Thatcher-Hintergrund-Foto auf komische Weise zur Ernsthaftigkeit des eigenen literarischen Tuns bekannte.
Die Jury mochte, zu Recht, auch diesen Text, beide, Schubert wie Herbst, übrigens von Insa Wilke eingeladen, die sich bekannte, sie habe diese schönen und bewegenden Erzählungen auch als Geschenk an die Zuhörenden in schwierigen Zeiten verstanden. Von solchen Absichten distanzierte sich Klaus Kastberger angesichts seiner Einladung Egon Christian Leitners ganz entschieden.
Da ging es eher um einen Schlag ins Gesicht, denn Leitner trug eher etwas wie eine sozialradikale Gardinenpredigt vor, eine tagebuchartig gereihte Aufzählung sozialer Missstände der Gesellschaft. Er las dann, nur konsequent, auch gleich in einer Kirche, irgendwann schlugen die Glocken.
Brutale Sprache der Verwaltung
Leitner hat einen sehr eigenen Ton, das ist von gut gemeinter Sozialpädagogik Welten entfernt. Da ist viel Wut, aber sie ist zu Sarkasmus geronnen, einem Sarkasmus, der grimmig komisch und richtig böse sein kann, der sich der hohlen und brutalen Sprache der Verwaltung des Menschen anverwandeln kann, aber das Hohle und Brutale darüber keine Sekunde vergisst.
Das ist in hohem Maß literarisch, von Leitner leider in einer zwar schön österreichischen, aber doch leiernden Eintönigkeit vorgetragen, die die Vielfalt der eigenen Töne reduziert. Dabei ist das, bei aller philosophischen Ausgefuchstheit, die Leitner in einer längeren Wortmeldung am Ende der Jury-Diskussion eher etwas kauzig als ganz überzeugend vorführte, von so bohrender Konsequenz und Ungemütlichkeit, dass Abwehrreflexe nicht ausbleiben können.
Ich sage das auch für mich selbst: Es ist die Sorte Exerzitium, der ich mich, es bewundernd auf Abstand haltend, im realen Leserleben dann doch lieber entziehe.
Seltsam breitbeinig vorgetragen
Gegen diese drei Höhepunkte konnten die beiden Nachmittagstexte nicht bestehen. Die Jury sah das etwas anders, nicht wenige wollten auch in Matthias Senkels „Warenz“ Gekonntes erkennen. Da war auch, seltsam breitbeinig vorgetragen, Gekonntes, aber die wichtigere Frage scheint mir, warum man das, was Senkel da konnte, auch können sollte.
Im Detail des Hin- und Hersprungs zwischen den Zeiten (Zukunft gar auch) war das ein zwar gut getüftelter, aber auch sehr schmaler, sehr um sich selbst kreisender, sehr preziös formulierter, sehr auf die eigenen Getüfteltheit fokussierter Text über allerlei Wissenswertes und Geheimnisvolles rund um ein zwar titelgebendes, aber erfundenes mecklenburgisches Warenz.
Vollends daneben dann zum Abschluss Levin Westermanns freilich sehr korrekt betiteltes Prosagedicht „und dann“. Beziehungsweise ist „vollends daneben“ nicht richtig. Eher knapp daneben, würde ich sagen. Denn tatsächlich ist dieses tierreich wiederholungsbesoffene, ritornellartig auf der Stelle vorantretende, manchmal einen Reim, dann wieder keinen erhaschende Werk als Wortklanginstallation nahe am Nonsens gebaut.
Eine unfreiwillige Potenz
Es will sich aber nicht zu dieser Nähe und schon gar nicht zum Nonsens bekennten, sondern speist, vor allem in Form von zusehends enervierendem Namedropping immer wieder Sinnprätentionen in den eigenen potentiell komischen Fortgang ein.
Aber der Ernst, auch des Vortrags, die leider auch sehr ernsthafte Jurydiskussion machten klar, dass die Potenz so unfreiwillig ist, wie der Text am Ende zu seinem großen Unglück unkomisch bleibt. Wer die Komik des Ganzen sofort verstand, war allerdings Clemens Setz (@clemensetz), der auf Twitter sofort begann, in der Machart von Westermanns Prosa zu dichten. Und zwar genuin komisch und sehr toll und ganz spontan zu dichten.
Das ist an der intermedialen Verfasstheit des Bachmannpreises das Schöne: Wenn die Jury mal nicht ihre fünf Sinne beisammen hat, dann springt Twitter ein und sorgt dafür, dass es nicht langweilig wird.
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