Zwei Theaterpremieren in Berlin: Die Not transzendieren

Was passiert, wenn Schauspieler Soldaten werden? Danach fragen Künstler in der Schaubühne in Berlin. Wie ändert sich Kunst in Zeiten des Kriegs?

Ein Schauspieler steht mit ausgebreiteten Armen vor einem Tisch

Oleh Stefan vom Left Bank Theatre Kyiv an der Berliner Schaubühne Foto: Gianmarco Bresadola

Die Schaubühne in Berlin eröffnet mit dem dokumentarischen Stück „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ des ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov über den Krieg in seiner Heimat die Saison und wirft dabei vor allen einen Blick auf Frontlinien. Im Berliner Ensemble erkundet Luk Perceval in einer Bearbeitung des Romans „Exil“ von Lion Feuchtwanger hingegen die Abgründe der Ferne von der Heimat.

Beide Produktionen belegen, dass Theater selbst dann zeitgenössisch sein kann, wenn die Zeitgenossenschaft einem angesichts der Kriege hier, der Gräueltaten da und eines sich immer mehr erhitzenden Globus viel abverlangt. In der Schlusssequenz von „Exil“ wird sogar in den Raum gestellt, dass es in der größten Not erst die Kunst ist, die die Not auch transzendiert und den leidenden Menschen überhaupt zum gesellschaftlichen Wesen macht.

Lion Feuchtwanger ließ in seinem Roman „Exil“ den aus München vor den Nazis geflohenen Komponisten Sepp Trautwein in der Pariser Emigration erst dann zu sich kommen, als er die elenden Zustände des Wartens auf Bescheinigungen zum Arbeiten, zum Weiterfliehen, zum Überleben überhaupt in eine Sinfonie über das Warten überführen konnte. Da sitzt der von Oliver Kraushaar als bayrischer Polterkopf angelegte Tonsetzer am Bühnenrand und lässt all das, was in diesem sehr episch angelegten Abend erzählt wurde, zu Klängen kondensieren.

Vom Theater zur Armee gemeldet

Im Westen Berlins, am Ende des Ku’damms, befragte zur gleichen Zeit ein ukrainisch-deutsches Ensemble aus Mitgliedern des Left Bank Theatre Kyiv und der Schaubühne, was Künstler in Kriegszeiten überhaupt tun können. Left-Bank-Intendant Stas Zhyrkov verzichtete dabei völlig auf eine rhetorische Fragepose. Er interviewte stattdessen ganz direkt Schauspielkollegen, die sich von der durch den russischen Angriffskrieg geschlossenen Bühne direkt zur Armee gemeldet haben.

“Exil“ am Berliner Ensemble wieder am 8. + 9., 22. + 23. Oktober.

Zudem gibt es am Berliner Ensemble die Reihe „Stories from Exile“, mit Künst­le­r:inn­nen aus der Ukraine, Beginn am 16. September.

“Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ an der Schaubühne, wieder am 14. + 15. + 16. Oktober.

Ihre Interview-Aussagen werden von Oleh Stefan und Dmytro Oliinyk, zwei nach Berlin gekommenen Ensemblekollegen des Left Bank Theatre, sowie Schaubühnenensemblemitglied Holger Bylow szenisch umgesetzt.

Stefan und Oliinyk treibt dabei auch die Frage um, warum sie hier und die anderen dort sind. Sie, und alle anderen, denen es vielleicht ähnlich geht, werden von einem, der an der Front ist, maximal entlastet. „Nicht alle müssen zur Armee, das ist überhaupt nicht notwendig“, teilt Wowa Krawtschuk, Schauspieler des Left Bank ­Theatre, in seiner Soldatenkluft per Videointerview mit.

Krawtschuk spricht auch über seine Zweifel, über seine Auseinandersetzung mit der Vorstellung vom eigenen Tod und der Vorstellung, andere töten zu müssen, ja, sie töten zu wollen. Auseinandersetzungen dieser Art findet man natürlich in der klassischen Dramenliteratur. Hier aber führt sie ein Mensch von heute, einer, der Schauspiel studiert, in Komödien und Dramen aufgetreten ist. Das macht es anders, direkter und verstörender zugleich.

Krawtschuk schlägt auch noch andere Volten. Er entheroisiert das Militär, indem er verschiedene Kriegertypen vorstellt, den Nato-Supersoldaten etwa, der sich von der Frau im Ausland die tollsten Ausrüstungsstücke zuschicken lässt und wie ein Robotersoldat über das Schlachtfeld stolziert. Überhaupt sind Ausrüstungsfragen in den Berichten der zu Soldaten gewordenen Schauspieler von Humor geprägt. Stefan, Oliinyk und Bülow überhöhen das Ganze noch, indem sie statt des soliden Schuhwerks dann Pumps anziehen, statt der langen dicken Unterhosen glitzernde Slips überstreifen oder sich in Ponchos und Sombreros hüllen.

Man befindet sich auch in einem Kriegstheater, einem, das Stellung nimmt

Erschreckende Szenen haben Regisseur Stas Zhyrkow und Dramaturg Pavlo Arie ebenfalls eingebaut. Die Tonspur von Telefonaten, die laut Unterzeile russische Soldaten mit ihren Frauen und Freundinnen geführt haben und die der ukrai­nische Geheimdienst auffing, wird über die Lautsprecher des Theaters ausgegeben. Da sind Männerstimmen zu hören, die ihren Frauen von Vergewaltigungen erzählen und noch um Erlaubnis dafür bitten.

Die Authentizität des Tonbands kann man vom Theatersitz aus nicht verifizieren. Deutlich wird, dass man sich eben auch in einem Kriegstheater befindet, einem, das Stellung nimmt – und das das Stellungnehmen auch in den Zuschauerraum ausweitet.

Die Sache mit der Nationalität

Aber auch andere Töne werden angeschlagen. In einer autobiografischen Skizze zu Beginn wirft Stefan Schlaglichter auf das Nationalitätendurcheinander im postsowjetischen Riesenreich. Bei ihm stand Russe im Ausweis, weil auch beim Vater Russe stand. Der war aber ursprünglich Moldawier, die Mutter hingegen Ukrainerin. Seine Muttersprache, die, mit der er aufwuchs, trotz einer Wochenstunde Ukrainisch in der Schule, war Russisch. Jetzt ist er Ukrai­ner, Punkt. Auch das machen Kriege.

Ein Schauspieler steht auf einer kurzen Leiter, als ob er runterspringen wollte, andere sitzen auf Stühlen

Szene aus „Exil“ im Berliner Ensemble Foto: Jörg Brüggemann

Um Fragen der Identität kreist auch „Exil“, die Saisoneröffnungspremiere im Berliner Ensemble. Was ist der Mensch in der Fremde noch, was kann er sein? Trautwein, der Komponist, ist im Exil vor den Nazis Hilfslehrer an der Musikschule. Er steigert sich zudem in den Journalistenberuf bei einer Emigrantenzeitung in Paris hinein. Seine Frau Anna ist lebenspraktischer, sie organisiert das Durchkommen. Auch sie merkt aber die Entfremdung. „Eine Arbeitskarte ist mir wichtiger als deine Musik“, sagt sie als Quintessenz des Nichtmehrseins, was man einmal war.

Die Inszenierung von Luc Perceval braucht etwas Zeit, bevor sie Fahrt aufnimmt. Im Schatten eines aus vielen Stühlen gebauten Eiffelturms entfaltet er die vielen narrativen Stränge des Romans: Intrigen zwischen den Emigranten, aber auch das subversive Tun der NS-Gesandten in Paris, denen die Emigrantenzeitung ein Dorn im Auge ist.

Kammerspiel ums Überleben

Nach der Pause, wenn die vielen Erzählfäden endlich ausgelegt sind, verdichtet sich die Inszenierung zu einem mit bedingungsloser Härte ausgefochtenen Kammerspiel ums Überleben. Keinen Ausweg mehr sieht Anna. Wie sie stirbt, wie sie sich selbst das Leben nimmt, vor allem angesichts der Sprachlosigkeit zwischen ihr und dem einst geliebten Partner, das spielt Pauline Knof in einer Dringlichkeit, die tief in jedes Herz geht. Es ist der emotionale Höhepunkt des Abends.

Und ohne dass Perceval sein Ensemble explizite Anspielungen auf die Ukraine machen lässt, drängen sich unweigerlich Gedanken über jene auf, die sich jetzt im Exil befinden, wieder in Paris unter dem Eiffelturm, aber auch hier unter dem Fernsehturm ganz in der Nähe des Theaters. „Exil“ wird damit zum Komplementärabend von „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“.

Künstlerisch ist Percevals Inszenierung viel stärker durchgearbeitet, viel aufwendiger produziert auch. Sie hätte schon viel früher draußen sein sollen, war lange vor dem russischen Angriffskrieg geplant und ist durch die Pandemie verschoben worden. Jetzt wird sie zum Analysestück zu aktuellen Exilsituationen. Zhyrkows Produktion hingegen ist schnell hingeworfen, brandaktuell, und geht trotzdem in die Tiefe.

Dass in „Exil“ der Komponist aus all dem Leiden noch ein Werk schafft, kann man einerseits als Trost betrachten. Andererseits ist es auch ein sehr bitterer Kommentar zum künstlerischen Produktionsgeschäft: Erst aus dem Suizid der eigenen Frau schöpft der Mann die Kraft zum Tönesetzen. Viel Stoff zum ­Denken.

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