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Zwei Jahre Anschlag auf „Charlie Hebdo“Abschied vom anarchischen Denken

Nicht wenige der früheren MitarbeiterInnen haben „Charlie Hebdo“ verlassen. Über die Verfasstheit der Redaktion zwei Jahre nach dem Anschlag.

Ein Cartoon, den Zeichnerin Coco zum ersten Jahrestag des Attentats für die taz gezeichnet hat Bild: Coco

Berlin taz | Die französische und deutsche, knallrotleuchtende Neujahrsausgabe von Charlie zeigt den Gewehrlauf einer Kalaschnikow. In den Händen eines Mullahs zielt er auf eine blöde grinsende Visage, die fast schon an den jungen Trump gemahnt. „2017 – Endlich Licht am Ende des Tunnels“ lautet die Schlagzeile. Licht am Ende des Tunnels? Charlie steht seit dem grausamen Anschlag auf die Redaktion vor zwei Jahren permanent im medialen Rampenlicht – und produziert so abgeschottet wie nie zuvor seit September 2015 in fast 400 Quadratmeter großen Räumen im 13. Arrondissement von Paris. Das Gebäude, von der Stadt gemietet, gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis, einem Bunker über Tage.

Wie arbeit es sich an einem solchen Ort, wie kann man in einer derartigen Zwangsjacke kreativ überleben? Es gibt einen Cartoon der Zeichnerin Coco, die vergangenes Jahr auch exklusiv für die Wahrheit-Gedenkausgabe zum ersten Jahrestag des Attentats gezeichnet hatte, in dem just jenes Charlie-Gebäude aussieht wie eine Burka mit Sehschlitzen. Darüber steht „Vue sur mer“.

Bis jetzt hat den „Meerblick“ nur ein Außenstehender, der italienische Regisseur und Drehbuchautor Francesco Mazza, von innen gesehen. Charlie-Mitarbeiter sollen eigentlich keinen Kontakt zu anderen Medienmenschen aufnehmen, so will es die Direktion. Mazza hat erst kürzlich seine Eindrücke in Libération veröffentlicht. Unter dem auf ihn gemünzten und recht pathetischen Label „eine wahrhaft lebensverändernde Erfahrung“, kommt Coco zu Wort (die damals von den Kouachi-Brüdern im Treppenhaus mit Kalaschnikows bedroht wurde und den Code für die Etage eingeben musste), sowie die Leiterin der Personalabteilung, Marika Bret, die am 7. Januar 2015 nicht in der Redaktion war. Bret: „Dieser Tag war eine von allen Seiten erwartete Abrechnung. Im Vorfeld hatte national und international niemand zu Charlie gehalten … Und plötzlich waren alle für uns. Da musste es zu einigen Missverständnissen kommen. Das beste Beispiel dafür war eine Einladung von US-Präsident Obama ins Weiße Haus – unter der Bedingung, dass keiner von uns ihm eine Frage stellen dürfte. Wir haben natürlich abgesagt.“

Das Innenleben von „Charlie“

Coco schrieb vergangenes Jahr für die taz-Sonderausgabe an die Wahrheit: „Sagt mir einfach, was ich zeichnen soll, dann mache ich das. Ansonsten habe ich keine Zeit und keine Ruhe.“ Und so ist es – stellt man Coco per Mail eine Frage, antwortet sie, wenn überhaupt, mit einer Zeichnung. Es ist Ende 2015 ein Fries für die Ewigkeit aus Paris geworden. Ein Fries zum Weinen. Zum Lachen auch.

Die Spurensuche nach dem Innenleben von Charlie, sie ist mühsam geblieben. Die Zahlen dagegen sind bekannt. Rund 200.000 Abonnenten hat die Wochenzeitung momentan, im Gegensatz zu 8.000 vor dem Anschlag. Etwa zwölf Millionen Euro Überschuss kamen durch die weltweit verkaufte Nummer nach dem Attentat zusammen, dazu noch etwa 4,3 Millionen Euro, die 36.000 Menschen aus 84 Ländern für die Hinterbliebenen spendeten. Nicht wenige der früheren MitarbeiterInnen haben das Blatt mittlerweile verlassen – und meist dabei an Kritik nicht gespart. Jüngster Abgang ist die Ex-Redakteurin Zineb El Rhazoui: „Die Zeitung ist nicht mehr die Gleiche. Der Kurs ist nicht mehr wie früher.“ Der Abschied vom anarchischen Denken, sei vollzogen. Da war Zeichner Luz schon längst nicht mehr dabei: „Das Geld ist vergiftet“. Luz hatte den Titel der Ausgabe der Überlebenden gestaltet, den weinenden Mohammed und die Zeile „Tout est pardonné“ – „Alles ist vergeben“.

Der praktizierende Notarzt und Journalist Patrick Pelloux hält den aktuellen Hauptaktionären Laurent Sorisseau (als Zeichner nennt er sich „Riss“) und dem Finanzdirektor des Blattes, Eric Portheault, Doppelmoral vor. „Eine Zeitung, die ein alternatives Gesellschaftsmodell predigt, kann doch nicht von zwei Großaktionären gesteuert werden. Das ist ja geradezu so, als wenn überzeugte Vegetarier immerzu Steaks verspeisen.“ Riss hält mittlerweile 70 Prozent der Anteile (er hatte einen Großteil der Anteile des getöteten Zeichners Charb von dessen Familie übernommen), Portheault 30 Prozent. Zeichner Luz, der Exkolumnist Pelloux und El Rhazoui, hatten letztlich ohne Erfolg für weniger Hierarchie in der Redaktion geworben: Charlie als Kooperative, in der das Team eine Aktionärsgemeinschaft bildet.

Machtspiele und Verteilungskämpfe

Pünktlich zum zweiten Jahrestag des Anschlags ist jetzt im Pariser Verlag Fayard unter dem Titel „Charlie Hebdo, le jour d’après“ eine Polemik über die Situation des Blattes erschienen. Darin beklagen die französischen Journalisten Marie Bordet vom Magazin Le Point und Laurent Telo von Le Monde, dass der überlebende Teil der Redaktion größtenteils ihre einstigen anarchischen Überzeugungen verraten habe. Die Autoren nutzten für ihre Recherche private Kontakte zu Charlie-Mitarbeitern, die Führungsriege hatte Interviews verweigert. Mit Hilfe des Todschlagarguments „Bedroht vom Terror“ sei eine intransparente Verlagskultur auf dem Vormarsch. Die fehlende Solidarität mit den Hinterbliebenen und unter den Überlebenden kennzeichneten den redaktionellen Alltag. Stattdessen gebe es in dem expandierenden Medienbetrieb Machtspiele und Verteilungskämpfe. Seit Dezember erscheint Charlie auch wöchentlich auf deutsch.

Immer noch offen ist zweifelsohne die Frage der Entschädigung der Hinterbliebenen aus Verlagseinnahmen. Gala Renaud, die Witwe des ermordeten Journalisten Michel Renaud, kritisiert, dass die 4,3 Millionen Euro, die aus aller Welt gespendet wurden, intransparent verteilt werden. Ausserdem klagt sie aktuell gegen Riss wegen schweren Vertrauensbruchs. Er habe verfügt, dass die zwölf Millionen Euro aus der Überlebenden-Ausgabe in keinster Weise den Terroropfern zugutekommen, sondern dem Verlag. Ein Rechtsverfahren ist noch nicht eröffnet worden. Und die Witwe des Zeichners Tignous, Chloé Verlhac, musste den Unterhalt für die beiden gemeinsamen Kinder und sich selbst erst gerichtlich erstreiten. Auch Maryse Wolinski, die Witwe von George Wolinski, empört sich über die Profitausrichtung von Charlie. „Wir, die Hinterbliebenen hätten die Priorität sein sollen.“

Seine letzten Worte

Die heute 73-jährige ist fast ein Jahr nach dem Attentat Ende 2015 innerhalb von Paris umgezogen – in eine lichte Wohnung „mit ganz viel Himmelblick“. Als wir sie dort antrafen, wirkte sie filigran und zerbrechlich, traurig und unverzagt zugleich. Fast 50 Jahre war die gebürtige Pariserin mit Wolin, wie sie ihn bei Charlie nannten, verheiratet. „Ich weiß gar nicht, ob ich ihm an diesem Morgen einen Abschiedskuss gegeben habe.“ Sie hat ein anrührendes Buch geschrieben „Chérie, je vais à Charlie“ (Editions Seuil). Es waren George Wolinskis letzte Worte, die ihr im Gedächtnis haften geblieben sind.

Apropos haften: Maryse Wolinski hat aus der alten gemeinsamen Wohnung am Boulevard Saint-Germain auch eine kleine Kiste voll zitronengelber Haftzettelchen mitgenommen, Hunderte persönliche Posties von Wolinski, die meisten voller Zugetanheit. „Als ich dann in die neuen, leeren Räume kam, dachte ich, wenn ich die Zettel an die Wand klebe, bin ich wieder zu Hause. Aber das ist vorbei. Es gibt kein Zuhause mehr.“

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1 Kommentar

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  • Zitat: "Als ich dann in die neuen, leeren Räume kam, dachte ich, wenn ich die Zettel an die Wand klebe, bin ich wieder zu Hause. Aber das ist vorbei. Es gibt kein Zuhause mehr."

     

    Zuhause ist nicht da, wo die ererbten Dinge sind. Zuhause ist da, wo man den Menschen vertrauten kann, weil man sie liebt um ihrer selbst willen liebt und von ihnen um seiner selbst willen zurückgeliebt wird. Zuhause kann man Kind sein, kreativ und anarchistisch, aber auch arglos und gutartig. Wo man den Mitmenschen nicht vertrauen kann, ist das vollkommen unmöglich.

     

    Ich verstehe Maryse Wolinski gut. Sie ist enttäuscht von den diversen "Erben" ihres Mannes. Ihre frühere Naivität wird sie genau so wenig wiederfinden, wie sie ihren Mann zurückbekommen wird. Wer selber nicht vertraut, dem kann auch niemand anderer vertrauen. Bei dem kann man einfach nicht zuhause sein.