Zwangsprostituierte aus Westafrika: Der Traum von Europa
Tausende Westafrikanerinnen landen als Prostituierte in Europa, gefügig gemacht durch Bedrohung und religiöse Rituale. Einige Täter stehe vor Gericht.
Die Urteile sind eine Ausnahme. Gewöhnlich enden Gerichtsprozesse gegen Bordellbetreiber und Menschenhändler, die Frauen aus Osteuropa, Afrika und Asien in die Prostitution zwingen, wie jener Anfang Juni in Braunschweig in Niedersachsen: mit Freispruch.
Einer 62-jährigen Frau war vorgeworfen worden, Frauen aus Nigeria unter anderem mit einem Voodoo-Zauber, dem sogenannten Juju, zur Sexarbeit gezwungen zu haben. Dass die Frauen keine Papiere hatten, habe die Frau nicht gewusst, erklärte sie.
Auch seien die Frauen von ihr nicht zur Prostitution genötigt worden, sondern hätten das freiwillig getan. Die mutmaßliche Täterin wurde freigesprochen, weil die Nigerianerinnen bei der Polizei und im Gerichtssaal unterschiedliche Aussagen gemacht hatten.
Verunsichert und eingeschüchtert
Folgt man dem Gericht, musste es die 62-Jährige freisprechen: in dubio pro reo – im Zweifel für die Angeklagte. Folgt man indes den Erfahrungen von Mitarbeiter*innen in Beratungsstellen gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution, verschiebt sich das Bild. Die Expert*innen wissen, wie ängstlich, verunsichert und eingeschüchtert Opfer von Zwangsprostitution häufig sind und sich daher im Laufe eines Verfahrens durchaus in Widersprüche verwickeln können. Opfer und Täter sitzen sich im Gerichtssaal gegenüber, mitunter kommt es zu offenen Drohungen.
Özlem Dünder-Özdogan, Juristin und Koordinatorin bei Kobra, einer Beratungsstelle gegen Menschenhandel in Hannover, hat das einmal miterlebt. Eine junge Frau aus Bulgarien hatte gegen zwei Männer – Vater und Sohn – ausgesagt. Im Publikum saß die Ehefrau und Mutter, irgendwann griff sie die junge Frau direkt an: „Wenn du zurück bist in Bulgarien, wirst du sehen, was du davon hast.“ Dünder-Özdogan, die einen türkischen Migrationshintergrund hat, hatte die Drohung verstanden und gemeldet, der Prozess wurde fortgesetzt, die junge Frau blieb standhaft. „Eine Ausnahme“, sagt die Kobra-Mitarbeiterin.
Menschenhandel und Zwangsprostitution sind eng miteinander verknüpft. 83 beziehungsweise 72 Prozent der verschleppten Frauen und Mädchen werden laut eines Berichts der Vereinten Nationen (UN) sexuell ausgebeutet. Männliche Opfer von Menschenhandel werden in der Regel zur Arbeit gezwungen. 25.000 Opfer von Menschenhandel haben die UN vor drei Jahren ausfindig gemacht. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Das Bundeskriminalamt registrierte 2017 in Deutschland 489 sexuell ausgebeutete Opfer und 523 Tatverdächtige.
Osteuropäerinnen kommen oft freiwillig
Mechanismen, Anwerbestrategien und die rechtliche Situation im Sexgewerbe haben sich im Laufe der vergangenen Jahre verändert, unter anderem durch das Freizügigkeitsrecht der EU, wonach EU-Bürger*innen bis zu drei Monate in einem EU-Land arbeiten dürfen.
Das nutzen heute vor allem Sexarbeiterinnen aus Bulgarien und Rumänien, sagt Johanna Weber, Vorstand beim Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. „Sie kommen für zwei, drei Monate nach Deutschland, arbeiten hier und fahren zurück nach Hause.“ Das sei selbstbestimmte und keine Zwangsprostitution.
Einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zufolge könne sich aus einer anfänglich freiwilligen Sexarbeit rasch Zwangsprostitution entwickeln, in diesen Fällen seien sowohl Täter*innen als auch Opfer häufig arm und bildungsfern, die meisten kommen aus Osteuropa. Für die Studie wertete das KFN Polizeiakten aus den Jahren 2009 bis 2013 aus.
Unterdessen steigt die Zahl der Frauen, die in Afrika mit fadenscheinigen Versprechen für die Prostitution angeworben nach Europa verschleppt werden. Manche Opfer kommen nach Deutschland und hoffen hier auf Hilfe. Doch die finden sie kaum – unter anderem aufgrund des geltenden EU-Migrationsrechts.
Den ganzen Schwerpunkt der taz nord zur Zwangsprostitution von Westafrikanerinnen lesen Sie in der taz am Wochenende oder hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Krieg in Gaza
Kein einziger Tropfen sauberes Wasser
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus