Zwangsheirat in den Sommerferien: Sklavin der Familie
Heimaturlaub in den Sommerferien. Viele Mädchen und junge Frauen werden dabei aber unfreiwillig verheiratet und kommen nicht mehr zurück.
Meist kennen die Betroffenen ihren zukünftigen Ehemann nicht, zum ersten Mal sehen sie ihn beim „Heimaturlaub“, von dem sie fast nie nach Deutschland zurückkehren.
Jedes Jahr wenden sich etwa 400 Mädchen und Frauen an die Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes in Berlin. Manche von ihnen ahnen, dass ihnen eine Zwangsverheiratung droht. Andere bekommen Morddrohungen, wenn sie sich dem Druck der Familie nicht beugen. Wieder andere suchen Rat, weil Eltern und Verwandte nicht zulassen, dass sie weiter zu Schule gehen.
Wenn Ende August bundesweit die Ferien zu Ende gehen, dürften sich so manche LehrerInnen wundern, wer alles nicht mehr in ihrer Klasse sitzt. Mitunter wird dann wahr, was einige KlassenkameradInnen und die Lehrkräfte befürchtet hatten: Das Mädchen wurde zwangsverheiratet. Die Eltern melden es mit fadenscheinigen Begründungen von der Schule ab.
Rund 3.500 Mädchen, junge Frauen und junge Männer haben sich 2011 bundesweit an Beratungsstellen gewandt, weil sie eine Zwangsheirat befürchteten. In rund 40 Prozent der Fälle wurden diese auch vollzogen, hat das Familienministerium in einer Untersuchung herausgefunden. Es ist die erste und bislang einzige Studie zum Thema. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor, die Dunkelziffer dürfte hoch sein.
Betroffen sind vor allem Mädchen und junge Frauen aus der Türkei, sagt Sybille Schreiber von Terre des Femmes. Aber auch „Heiratskandidatinnen“ aus dem Kosovo, Nordafrika und dem arabischen Raum sind gefährdet. Die meisten sind zwischen 18 und 21 Jahre alt. Ein Drittel der Betroffenen ist laut Studie minderjährig. Junge Männer werden häufig in eine Ehe gezwängt, wenn die Familie von der Homosexualität des Sohns erfahren hat.
Für Zwangsehen drohen jetzt fünf Jahre Haft
Bis 2011 wurden Zwangsehen, die die Vereinten Nationen als „moderne Form der Sklaverei“ bezeichnen, in Deutschland nicht strafrechtlich verfolgt. Damals wurden nur deren Folgen wie Vergewaltigung bestraft. Jetzt drohen für Zwangsehen Haftstrafen bis zu fünf Jahren.
Ein großes Problem sind sogenannte religiöse und soziale Eheschließungen. Die werden ohne Standesamt und in der Regel von einem Imam geschlossen. Daraus ergeben sich zwar keine zivilrechtlichen Ansprüche wie bei der standesamtlichen Ehe. „Aber die Mädchen und jungen Frauen fühlen sich wie ganz normal verheiratet“, sagt Sybille Schreiber von Terre des Femmes.
Mit fatalen Folgen: Sie leben fortan in der Familie ihres Mannes, müssen ungewollten Sex ertragen und werden ungewollt schwanger. Schule und Ausbildungen müssen sie abbrechen. Die Gleichstellungs- und FrauenministerInnen fordern daher, auch religiöse Zwangsehen zu bestrafen.
Deutsche Behörden wie das Jugendamt können im Vorfeld bedingt eingreifen. Sie könnten beispielsweise den Reisepass des Mädchens einziehen, damit es nicht ausreisen kann.
Frauen, die erfolgreich vor einer Zwangsehe geflohen sind, leben in Deutschland meist anonym, viele haben ihre Identität gewechselt – aus Angst vor Familienrache.
Bevor sich eine junge Frau an Terre des Femmes oder eine andere Beratungsstelle wendet, führt sie einen inneren Kampf, wie Sybille Schreiber sagt: Sie will ihre Familie nicht verlassen und nicht verletzen, aber genauso gut sich selbst schützen. „Die Mädchen befinden sich in einem permanenten Balanceakt“, so Schreiber. „Manche Mädchen zerbrechen daran.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos