Zwangsarbeit in Ungarn: 6 Monate ohne Job? Ab auf den Bau
Die Fidesz-Regierung unter Premier Viktor Orbań will Sozialhilfeempfänger zu Arbeitseinsätzen verpflichten. Wer zu weit weg wohnt, dem droht die Unterbringung im Lager.
WIEN taz | Arbeitslager mit zwangsverpflichteten Arbeitslosen könnten schon bald Wirklichkeit in Ungarn sein. Ein bereits im Ministerrat präsentierter Plan sieht vor, die Arbeitslosenunterstützung von derzeit neun Monaten auf 180 Tage zu begrenzen. Ein erster Entwurf zog sogar drei Monate in Betracht. Wer dann keinen Job hat, soll im Rahmen eines "Ungarischen Arbeitsplans" zwangsverpflichtet werden können - unabhängig von der Qualifikation.
Die Rede ist von großen Bauvorhaben, wie der Errichtung des neuen Stadions von Debrecen, der größten Stadt Ostungarns. Eine zweistündige Anreise zur Baustelle wird als zumutbar erachtet. Wer mehr als zwei Stunden entfernt wohnt, würde dann für die Dauer des Einsatzes in einer Containerstadt, also einem Lager, untergebracht werden.
Auch für die Bewachung dieser Lager hat die Regierung von Viktor Orbán schon eine Idee: Pensionierte Polizisten sollen als Sicherheitspersonal herangezogen werden. Damit kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn die ungarische Praxis, Polizisten nach 25 Dienstjahren in Pension zu schicken, hat Legionen rüstiger Frührentner hervorgebracht, die ihre karge Rente durch Jobs bei privaten Wachdiensten aufbessern.
Innenminister Sándor Pintér: "Diese Leute haben für die komplizierte Aufgabe, 300.000 Menschen in Arbeit zu bringen, genau die richtigen Fähigkeiten." Um auf diese Ressource zurückgreifen zu können, musste die Regierung die Verfassung ändern lassen. Denn Rentner konnten sich auf den dort verankerten Vertrauensschutz berufen.
"Arbeit muss sich lohnen"
Das Vorhaben, das jährlich Einsparungen von umgerechnet rund 225 Millionen Euro bringen soll, entspricht dem neuen Ethos "Arbeit muss sich lohnen". Ein "Leistungsstaat" soll den "Wohlfahrtsstaat" ersetzen. Sozialhilfe, so Orbán, sei "für alle Beteiligten erniedrigend". Da ist es nur konsequent, wenn sie auf Invalide und chronisch Kranke beschränkt wird.
Es braucht nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass diese Politik vor allem auf die Roma abzielt. Während die Arbeitslosigkeit mit rund 8 Prozent im europäischen Durchschnitt liegt, ist Beschäftigungslosigkeit bei der größten ethnischen Minderheit endemisch. Sie ist schlechter ausgebildet und wird bei der Jobsuche diskriminiert. Viele Roma-Familien leben von Sozialhilfe.
Nach heutigem Stand kommen rund 400.000 Personen für die zwangsverordnete Arbeit in Betracht. Sie können für staatliche Vorhaben eingesetzt, aber auch an Privatunternehmen "verliehen" werden. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Pläne anlässlich des Besuchs von Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao bekannt wurden. Die staatsfinanzkapitalistische Großmacht aus Asien will in Ungarn nicht nur im großen Maßstab Staatsanleihen aufkaufen, sondern auch in Industrie- und Infrastrukturprojekte investieren.
Auch unter dem sozialdemokratischen Übergangspremier Gordon Bajnaj gab es ein Programm zur Zwangsverpflichtung von Arbeitslosen. Allerdings war deren Einsatz nur für gemeinnützige Dienste in der eigenen Gemeinde vorgesehen. Die Bürgermeister waren darüber nicht glücklich, da dieses System teurer kam als die Auszahlung der Sozialhilfe. Die Idee der Zwangsarbeit war im Wahlkampf 2010 von der rechtsextremen Jobbik eingebracht worden. Deren Wähler will die rechtspopulistische Fidesz von Viktor Orbán jetzt ködern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden