Zurück ins elterliche Nest: Weihnachten und andere Krisen
Viele um Autonomie bemühte Menschen verfallen an Weihnachten einem Zustand der Regression. Warum feiern sie immer noch Weihnachten bei ihren Eltern?
Nur wenige schaffen den Absprung. Für einen beachtlichen Teil einer bestimmten Altersgruppe geht es Weihnachten zurück. Vielleicht wollen wir: noch ein mal Küken sein, suchen Wärme und Geborgenheit. Doch diese paar Tage, mit denen das Jahr zu Ende geht, befördern ungeahnte Aggressionen.
Ich nenne uns die Generation „Weihnachten bei Mami und Papi“ und meine damit diejenigen, die ab den späteren 70ern und 80ern geboren sind und nicht mit 25 oder 30 Kinder bekamen. Wir konnten noch ausufernd studieren und wollten profitieren vom Fortschritt, den uns die 1968er bescherten, die die Idee der vorbestimmten Rolle der Frau als Mutter für uns beerdigt hatten.
Statt selbst eine Familie zu gründen, sind wir auf maximale Freiheit und Unabhängigkeit bedacht, haben das Versprechen ernst genommen, dessen Kehrseite die Unsicherheit und Flexibilisierung der Arbeitswelt ist, und den schillernden Weg der Selbstverwirklichung beschritten – auch wenn wir diesen Begriff im Studium mit Gilles Deleuze und Michel Foucault zu dekonstruieren gelernt haben.
Familiäres Trostpflaster
Weihnachten bricht alles zusammen. Wer nicht allein in der WG oder verlassen in seiner Wohnung zurückbleiben will, weil sich alle Freunde gen Heimat verabschieden, landet bei seinen Eltern. Aus der vermeintlichen Autonomie wird fahle Einsamkeit, auf die das familiäre Weihnachten ein Pflaster draufzukleben verspricht.
Wir erkennen, dass im Spätkapitalismus Arbeit alles bestimmt, dass wir nicht wissen, wo unser Job uns in fünf Jahren hinführt, und dass die Freiräume für die eigene Familienplanung immer kleiner geworden sind. Mit dem Ergebnis: Wir schieben sie auf.
Weihnachten stellt uns vor ein reales Problem. Diese Tage sind symbolisch aufgeladen: Es sind die Tage der liebevollen Nähe und Behaglichkeit in einer ansonsten weitgehend durchrationalisierten Gesellschaft. Und dieser symbolische Überschuss hat es in sich. Er führt uns in eine Krise, denn er führt uns vor Augen, wie allein wir sind.
Angst vor Einsamkeit
Die Festtage lassen uns keinen Ausweg: Wir gehen dahin, wo die Konflikte schlummern; Tatsachen, über die wir das restliche Jahr nicht nachdenken müssen, weil uns Arbeit, Fitness und ein bisschen Ablenkungsprogramm keine Zeit dafür lassen.
Wir pfeifen aus dem letzten Loch. Und weil das so ist, wollen wir wenigstens diese paar Tage mal nicht darüber nachdenken, ob wir die richtigen Entscheidungen treffen. Der Angst der Einsamkeit so zu entgehen, führt uns zurück zur eigenen Stammfamilie.
Sind wir regressiv?
Wir setzen uns auf Mutterns Sofa, wollen zugedeckt und gefüttert werden. Freud versteht Regression als Rückfall in kindliches Verhalten einer früheren Entwicklungsstufe. Dem Begriff Regression haftet etwas Pathologisches an, denn wir sollen im Sinne der Psychoanalyse eigenverantwortlich und entsprechend unseres eigenen Entwicklungsstandes agieren. Das Ziel einer Analyse ist, diese Phasen bei sich zu erkennen und sich zu korrigieren, statt sich ihrer hinzugeben.
Als seien wir krank
Wir wollen an Weihnachten aber trotzdem so behandelt werden, als seien wir krank. Ob wir das in dieser Gesellschaft nicht alle sind, sei dahingestellt. Wahrhaben wollen wir das aber nicht, wir suchen nur Erholung.
Es ist einfach zu verlockend: endlich mal nicht funktionieren und mal nichts darstellen zu müssen. Denn eine Familie kreiert etwas und fühlt sich verbunden. Und im Gesamtbild der Gesellschaft macht das auch noch ganz viel Sinn. Welchen Zweck sollte es haben, sich in einer totalen Arbeitswelt, dem letzten Rückzugs- und Erholungsraum zu entsagen? Wir brauchen ihn ja.
Also fahren wir voller Erwartung nach Hause, sehnen uns nach Sorglosigkeit und Erlösung.
Geschenke bringt der Weihnachtsmann
Wir suchen ein Zurück in die Kindheit, eine Abwesenheit dieser lästigen Zwänge, die wir als Erwachsene längst internalisiert haben. Als Kind mussten wir nicht darüber nachdenken, wie wir die nächste Miete bezahlen und bis wann wir die Steuererklärung abgeben müssen. Kinder bekommen ein Eis, ohne ans Bezahlen denken zu müssen. Der kindliche Mythos erreicht an Weihnachten seinen Höhepunkt: Geld spielt keine Rolle, die Geschenke bringt der Weihnachtsmann.
Doch für dieses Spiel sind wir zu alt. Die Eltern fragen, wie es beruflich läuft oder ob man nicht mit dem Partner langsam mal über das Zusammenleben nachdenke. „Ihr wäret bestimmt tolle Eltern!“ Auf dem Sofa sitzt es sich weniger unbeschwert, die Mutter erwartet uns in der Küche.
Vielleicht wird es für die, die jetzt Kinder sind, diese Konflikte später nicht mehr so geben. Das Kindsein hat sich verändert, Kinder werden mehr wie kleine Erwachsene behandelt. Wenn wir früher nach einem Lolli fragten, antworteten die Eltern noch „Ja“ oder „Nein“. Heute heißt es: „Hat der nicht viel zu viel Zucker?“ Oder: „Du kannst den haben oder die Fruchtzwerge – beides geht nicht“ Oder: „Wir haben nur noch zehn Euro, überlege, wie wichtig dir der Lolli ist.“
Zu groß für das Nest
Unsere Kindheit war noch ein bisschen mehr Schutzraum vor den Härten des Lebens. Das macht den Wunsch, dahin zurückzukehren, umso stärker.
Doch dieser Wunsch wird nicht erfüllt. Erwachsen fühlen wir uns an Weihnachten aber auch nicht. Das führt uns vor Augen, dass wir mit unserer Selbstständigkeit scheitern. Das macht uns wütend. Wir sind ja viel zu groß für dieses Nest.
Es gibt für Weihnachten keine Alternative, zumindest keine ganz zufriedenstellende. Das Fest ist eine kleine Insel. Doch der Wasserspiegel steigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?