Zum Tod von Aydın Engin: Auf der richtigen Seite
Mit Aydın Engin ist ein bedeutender Journalist und Intellektueller der Türkei verstorben. Unser Autor konnte ihn bei seiner Arbeit kennenlernen.
Es ist der 15. Juli 2016. Ich hatte gerade meine Schicht bei der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet beendet und mich mit einem Freund getroffen, als ich erfuhr, dass Panzer auf die Bosporus-Brücke gefahren waren. Ich rannte zurück in die Redaktion. Viele verantwortliche Redakteur:innen konnten nicht zurückkommen, weil die Straßen Istanbuls gesperrt waren. Wir waren eine Gruppe junger, unerfahrener Journalist:innen am Newsdesk im dritten Stock. Wir hörten Kampfjets, das Licht ging an und aus, die Telefone funktionierten nicht mehr und wir versuchten irgendwie, Informationen von Kolleg:innen aus Ankara zu bekommen, um eine Zeitung für den nächsten Tag zu produzieren.
Als ich erfuhr, dass Soldaten auf dem Taksim-Platz standen, eilte ich ein Stockwerk höher und schrie vor Aufregung fälschlicherweise: „Die Polizei ist auf dem Taksim!“ „Was für Polizisten? Das sind bestimmt Soldaten, mein Junge“, antwortete Aydın Engin mir. Er sah besorgt aus.
Im Gegensatz zu uns hatte er schon mehrere Militärputsche erlebt. Dass er an diesem Tag in der Redaktion war, gab uns deshalb Sicherheit. Wie angebracht seine Sorge doch war, zeigte sich wenige Monate später. Er gehörte zu den Kolleg:innen, die bei einer Razzia in der Redaktion festgenommen wurden. Auch dieses Mal klagten sie ihn an.
Aydın Engin wurde 1941 in Ödemiş in der Provinz İzmir geboren. Er brach ein Jurastudium ab, um sich dem Theater zu widmen, arbeitete als Drehbuchautor des bekannten Regisseurs Yılmaz Güney. Sein Theaterstück „Devr-i Süleyman“ wurde 1967 mit der Begründung verboten, dass er den damaligen Ministerpräsidenten, Süleyman Demirel, kritisiere. Das Verbot wurde von einem Gericht kassiert und das Stück Hunderte Male ausverkauft aufgeführt. 1969 fing Engin an, für Gewerkschaften zu arbeiten und danach mit dem Journalismus. 1971, als er Textchef der Zeitschrift Yeni Ortam war, kam es zum Militärputsch. Engin kam ins Gefängnis. Nach der Haft gründete er mit anderen die Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei. In den 1970ern war er Chefredakteur der linken Tageszeitung Politika.
12 Jahre in Deutschland
Nach dem Militärputsch 1980 musste er wieder ins Gefängnis. Als er wegen eines bürokratischen Fehlers frühzeitig freigelassen wurde, flüchtete er mit seiner Partnerin Oya Baydar nach Deutschland. Hier verbrachte er 12 Jahre, arbeitete als Taxifahrer und schrieb in seinem Buch „Ben Frankfurt’ta Şöförken“ („Ich als Taxifahrer in Frankfurt“) darüber. Nicht nur die humorvollen Erzählungen machen es lesenswert, sondern auch seine Beobachtungen der damaligen Gesellschaft der Bundesrepublik. Nach seiner Rückkehr in die Türkei Anfang der 90er musste er die verbleibende Haftstrafe absitzen. Dann schrieb er für die Zeitungen Cumhuriyet, Birgün, Agos und das Nachrichtenportal T24.
2015 durfte ich ihn bei der Cumhuriyet kennenlernen, wo er eine Kolumne schrieb. Anders als andere ältere Kolleg:innen war Engin zugänglich und nahbar. Immer wenn er in den dritten Stock kam, mit den Händen auf dem Rücken und kleinen Schritten, da freute ich mich auf den Witz, den er gleich machen würde. Während in der Türkei alles immer schlimmer wurde, wir uns von einer Katastrophennachricht zur nächsten hangelten, brachte er mit seiner Art immer ein bisschen Erleichterung.
Anfang 2017 startete ich mit Kolleg:innen in der taz die türkisch-deutsche Onlinepublikation taz gazete und bat Engin um Unterstützung. Er nahm sich Zeit für uns. In seinen Artikeln, die er für uns schrieb, lieferte er deutsche Übersetzungen mancher türkischer Begriffe mit, um uns die Arbeit zu vereinfachen.
Als die Cumhuriyet 2018 in Folge unbegründeter Terrorvorwürfe eine neue Leitung bekam, war klar, dass Engin auf der richtigen Seite stehen würde. Er verließ die Zeitung und kritisierte die dortigen Vorgänge lautstark. Seitdem schrieb er für das Nachrichtenportal T24.
In seiner letzten Kolumne vom 11. Februar zeigte er, dass auch große Journalisten wie er mit Jahrzehnten Erfahrung Selbstkritik üben können. In jener Kolumne schrieb er, dass er mit seinen Texten zuletzt nicht sehr zufrieden gewesen sei, dass er eine Weile pausieren wolle. „Wie lange? Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht lange.“ Diese Kolumne war seine letzte. Am 24. März verstarb Aydın Engin im Alter von 81 Jahren aufgrund von Komplikationen, die nach einer Operation Anfang März aufgetreten waren.
Aus dem Türkischen übersetzt von Volkan Ağar
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?