Zum Tag der Ozeane: Ein Weltwunder stirbt
Das Great Barrier Reef in Australien kämpft ums Überleben. Schuld sind der Klimawandel und die Energiepolitik im Kohleland Australien.
F ür einen Mann, der gerade den „größten Orgasmus der Welt“ miterlebt hat, macht Peter Harrison einen ziemlich unzufriedenen Eindruck. „Das Great Barrier Reef ist in ernsthaften Schwierigkeiten“, sagt der Meereswissenschaftler. Harrison, einer der führenden Korallenexperten der Welt, steht zusammen mit anderen Forschern und Tauchern auf dem Deck eines Ausflugsschiffs, rund 30 Kilometer vor der Touristenstadt Cairns, Minuten nach einem Tauchgang. Es ist Mitternacht. Im dunklen Wasser des Pazifiks spiegelt sich der wolkenlose Sternenhimmel. Der Zeitpunkt ist ideal für die Taucher, um ein einzigartiges Naturspektakel beobachten zu können. Einmal im Jahr, während drei, vier Nächten, laichen Korallen: Sie pumpen Milliarden Spermien und Eier ins Wasser. Die Tourismusbehörde des Bundesstaates Queensland vermarktet das Naturspektakel als „den größten Orgasmus der Welt“ – in einem verzweifelten Versuch, Meldungen vom „Tod“ des Riffs zu kontern.
„Nein, das Riff ist nicht tot. Aber es braucht unsere Hilfe“, sagt der Forscher, als er sich am Morgen erneut in seinen Tauchanzug zwängt. Seine Haut ist von Sonne und Salzwasser gegerbt. Ein Leben lang hat sich der Australier mit dem Studium von Korallen beschäftigt. Mit seinen Student*innen sammelt er das Ejakulat der Korallen in Netzen ein. Die Befruchtung kann so unter kontrollierten Bedingungen stattfinden. Die „Korallenbabys“ werden schließlich im Riff ausgesetzt, an Orten, wo sie vielleicht noch eine Chance haben, neue Riffe zu bilden. Retten, was noch zu retten ist: Zwei Unterwasserhitzewellen haben in den Jahren 2016 und 2017 im nördlichen, tropischen Teil des Great Barrier Reef etwa die Hälfte der Korallen getötet. Wie Hitzewellen an Land sind sie eine Folge der menschgemachten Klimaerwärmung. „Eine weitere solche Hitzewelle, das wäre verheerend“, fürchtet Harrison.
Braungrüner Korallenschrott
Das Treffen mit Harrison fand im November statt, dem australischen Frühsommer. Harrisons Angst war berechtigt. In eine Zeit voller apokalyptischer Nachrichten über Buschfeuer und Covid-19 platzte die Meldung, dass sich im jüngsten australischen Sommer eine dritte Unterwasserhitzewelle durch das Riff gezogen hatte, diesmal bis in die bisher kaum betroffenen kühleren Gewässer des Südens. Forscher waren hunderte Quadratkilometer des Riffs abgeflogen. „Weiß, so weit das Auge reicht“, berichtete einer schockiert.
Empfohlener externer Inhalt
„Korallenbleiche“ nennt sich das. Es ist weder neu noch ungewöhnlich. Seit Tausenden von Jahren kommt es immer wieder zu solchen Ereignissen, dann, wenn sich in Riffen Temperatur und andere Umwelteinflüsse zu rasch verändern. Korallen sind empfindlich – einige Arten reagieren selbst auf geringste Temperaturschwankungen mit einem selbstmörderisch anmutenden Prozess: Sie trennen sich von den Algen, die ihnen in einer faszinierenden Symbiose Nahrung und Farbe geben. Geschieht dies in einem überschaubaren Gebiet und nur kurzzeitig, können sie sich erholen, auch die Farbenpracht kehrt zurück. Wenn der Stress aber anhält, wenn die Temperaturen nach einer zu kurzen Pause erneut steigen, können sie absterben. Das Ergebnis ist ein von schleimigen Algen überzogener, braungrüner Korallenschrott.
Das Ökosystem
DasGreat Barrier Reef ist nicht ein einzelnes Riff, sondern eine Ansammlung von etwa 2500 einzelnen Riffformationen, die sich über 2300 Kilometer entlang der australischen Ostküste bis in die Gewässer vor Papua-Neuguinea ziehen. 400 Korallenarten, 1500 Fischarten und 4000 verschiedene Mollusken leben in diesem weltweit einzigartigen Ökosystem.
Die Bedeutung
Wegen seiner Funktion als Gebärsaal und Kinderstube für Fische und andere Meerestiere ist das Riff auch von größter Bedeutung für die Nahrungssicherheit von Millionen Menschen in den Anrainerstaaten des Pazifiks. Das Great Barrier Reef ist ein Wunder der Natur – es wurde 1981 ins Register der Weltnaturerbe der Unesco aufgenommen. Zwei Millionen Menschen besuchen das Riff im Jahr.
Für Experten ist klar, dass die eskalierende Erwärmung der Erdatmosphäre der mit Abstand wichtigste Grund für die Temperaturerhöhungen in den Weltmeeren ist. Dazu kommt eine für Korallen tödliche Übersäuerung des Wassers – eine Folge der steigenden CO2-Belastung. Am Great Barrier Reef spielen noch andere Faktoren eine Rolle. Ein schwerer Schlag für das Ökosystem ist der korallenfressende Dornenkronen-Seestern, der sich vor allem in verschmutztem Wasser explosionsartig vermehrt. Die Tiere müssen von Tauchern von Hand einzeln mit einer Giftlösung getötet werden – eine arbeitsintensive Aufgabe im 345.000 Quadratkilometer großen Riff. Dazu kommt die Kontaminierung durch Abwässer in den Küstenregionen. Nährstoffe, Hormone, Gifte aus der Landwirtschaft fördern den Algenwuchs. Doch diese Gefahren seien „geradezu verschwindend“, wenn man sie mit der Bedrohung durch Klimaerwärmung vergleiche, sagt ein Forscher.
Vier Autostunden südlich entlang der ostaustralischen Küste. Im Australian Institute of Marine Sciences steht Kate Quigley zwischen riesigen Aquarien. Der Raum ist in blaues Licht getaucht. „Wir simulieren gerade die Nacht am Riff“, sagt die Meeresbiologin. In jedem der flachen Behälter stehen Dutzende verschiedener Korallen, jede ein paar Zentimeter hoch. „Wir holen sie aus dem warmen Norden des Great Barrier Reef und kreuzen sie mit Korallen aus dem kühleren Süden“, erklärt Quigley. Ziel ist die Entwicklung eines neuen Genpools wärmeresistenter Korallen. Sie sollen später gezüchtet und ausgesetzt werden, um neue Kolonien zu bilden. Das Projekt zeige „erste positive Resultate“, erzählt Quigley mit dem zurückhaltenden Optimismus einer Wissenschaftlerin, die jedes ihrer Worte abwägt. Doch kaum ist das Tonband des Reporters ausgeschaltet, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Sie wirkt besorgt, ja traurig, als sie nach einer Antwort auf die Frage sucht, ob ein heute 20-jähriger Australier das Riff in 20 Jahren noch seinen Kindern zeigen könne. „Wir tun unser Bestes“, sagt sie zögernd.
Kohletransport mitten durchs Riff
Dass viele australische Meereswissenschaftler und Klimatologen fürchten, sich in der Öffentlichkeit zu äußern, hat einen guten Grund. „Man kann seinen Job verlieren oder die Projektfinanzierung“, klagt eine andere Expertin, „wenn man etwas gegen Kohle sagt.“ Die australische Regierung pumpt hunderte Millionen Dollar in Forschungsprojekte und in die Bekämpfung der Seesternplage. Ziel sei, „das Riff widerstandsfähig zu machen“, bestätigt die zuständige Ministerin Sussan Ley.
Kritiker sprechen von Augenwischerei. „Solange solche Projekte nicht von der Reduzierung der Emissionen begleitet werden, ist es so, als ob man mit einem Gartenrechen Wasser einen Hügel hochschiebt“, sagt Shani Tager von der Meeresschutzorganisation Australian Marine Conservation Society.
Emissionsreduktion – das würde in Australien vor allem eines bedeuten: ein Ausstieg aus der Kohleindustrie. 70 Prozent des Stroms generiert das Land mit dem Verbrennen von Kohle, einem der klimaschädlichsten Rohstoffe überhaupt. Australien ist pro Kopf einer der größten Treibhausgasverursacher auf der Welt. Die Regierung weist zwar gerne darauf hin, dass das Land nur für etwa 1,6 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sei. Wenn aber die Verschmutzung durch die Exporte seiner fossilen Brennstoffe dazugerechnet wird, sind es 5 Prozent. Für Wissenschaftler steht außer Frage: Nur wenn der Großteil der Kohlevorräte im Boden bleibt, hat die Welt vielleicht eine Chance, den globalen Temperaturanstieg wirklich aufhalten zu können.
Zwei Stunden Autofahrt weiter, im Innern des Bundesstaats Queensland, macht sich der Anti-Kohle-Veteran David Anderson für seinen Einsatz bereit. Mit Rasta-Locken auf dem Kopf und einem Kaffee in der Hand zeigt er in einem Camp tief im Busch Aktivisten aus aller Welt, wie sie mit friedlichen Mitteln einen Giganten in die Knie zwingen können: Der indische Rohstoffkonzern Adani baut in einer der geologisch reichsten Kohlelagerstätten auf der Welt eine riesige Steinkohlemine.
Die Aktivisten beeinflussen über befreundete Umweltorganisationen im Ausland potenzielle Geldgeber und Zulieferer von Adani – und das durchaus mit Erfolg. Die Deutsche Bank hat nach einer Prüfung der Fakten eine Finanzierung ausgeschlossen, um nicht mit einem Projekt in Verbindung gebracht zu werden, das laut Anderson die Rechte der lokalen Ureinwohner mit Füßen trete, schon in der Bauphase massive Umweltschäden anrichte und schließlich für höhere CO2-Jahresemissionen verantwortlich sei als das Land Chile.
Gigantische Frachter sollen die Kohle direkt nach Indien befördern – mitten durch das Great Barrier Reef, trotz der Gefahr einer Katastrophe durch auslaufendes Schweröl. „Das Projekt ist eine Umweltkatastrophe und ein Schlag ins Gesicht für den weltweiten Klimaschutz“, sagt Anderson. Deshalb blockieren die Aktivisten Zufahrtsstraßen und ketten sich an Bagger und Lastwagen, bis sie verhaftet werden.
Dass die Protestgruppe das Projekt verhindern wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Kohle ist für Australien ein Riesengeschäft: Etwa 50 Milliarden US-Dollar verdient das Land pro Jahr mit dem Verkauf an Länder wie China und Indien. Die australische Klimapolitik ist ein ideologischer Grabenkampf, dominiert von Politikern und Medien, die Erkenntnisse über den Klimawandel bezweifeln oder komplett ablehnen. Und dies, obwohl gerade die jüngsten Buschfeuer gezeigt haben, welche katastrophale Folgen höhere Durchschnittstemperaturen in Australien schon heute haben.
Der australische Premierminister Scott Morrison kam einmal mit einem Klumpen Kohle in der Hand ins Parlament und meinte, man müsse davor „keine Angst haben“. „Er behauptet, dass es keine Beweise gibt, die Australiens Kohlenstoffemissionen mit der Schwere der Buschfeuer in Verbindung bringen“, so der Investigativ-Journalist Michael West. Diese „nackte Leugnung der Physik“ sei „nicht nur gefährlich, trügerisch, beleidigend und fahrlässig“. Sie sei auch ein Zeichen dafür, dass der Staat von wirtschaftlichen Interessen gefangen sei. Tatsächlich unterstützt die Rohstoffindustrie die führenden Parteien Australiens jedes Jahr mit Millionen Dollar an Spenden. Es ist gut investiertes Geld: Auch auf internationaler Ebene tut die australische Regierung ihr Bestes, um Bemühungen für besseren Klimaschutz zu verlangsamen und die Lebensspanne der Industrie zu verlängern. Energieminister Angus Taylor wird dafür mitverantwortlich gemacht, dass die jüngsten Klimaverhandlungen in Madrid in den Augen vieler Beobachter gescheitert sind.
Zurück in Cairns, Sonnenuntergang an der Flaniermeile am Strand. Nur eine Handvoll Leute sind zu sehen, wo um diese Zeit normalerweise Tausende spazieren. Die Grillanlagen sind verlassen, die meisten Geschäfte geschlossen. Covid-19 hat die Reiseindustrie lahmgelegt. Wann die Touristenschiffe wieder zum Riff fahren werden, weiß niemand. Viele haben ihren Job verloren – Tauchlehrer, Zimmermädchen, Köche. Priorität hat die Reiseindustrie trotzdem nicht für die australische Regierung, obwohl sie allein am Riff fast 70.000 Arbeitsplätze sichert, im Gegensatz zur gesamten Kohleindustrie mit ein paar tausend. Auch eine andere nachhaltige Industrie – Solar- und Windkraft – dürfte wenig von den Milliarden Dollar spüren, die die australische Regierung nach Covid-19 in den Wiederaufbau der Wirtschaft fließen lassen wird. Denn die Regierung will weiter auf die Fossilen bauen, wie der Energieminister Angus Taylor jüngst bestätigte, trotz deren schwindender Bedeutung im globalen Energiemix.
Die Riff-Industrie gibt sich optimistisch
„Ich weiß nicht, was wir für eine Zukunft haben werden“, sagt der 29-jährige „Ken“, der seit vier Jahren in Cairns lebt und auf einem Ausflugsschiff arbeitet. Er will aus Angst um seinen Job seinen wirklichen Namen nicht gedruckt sehen. Denn offiziell gibt sich die Riff-Industrie optimistisch – noch gibt es genügend Plätze, in denen die Schäden für Touristen nicht unmittelbar zu sehen sind.
Einzelne Betreiber sprechen zwar das Thema Klimawandel an – allerdings unter dem Vorbehalt, „dass wir der Kohleindustrie nichts vorschreiben können“. Gäste, die nach einem Schnorchelgang enttäuscht sind von der mangelnden Farbenpracht, werden auch schon mal belehrt, die farbigen Bilder in den Verkaufsbroschüren seien „eben mit Photoshop bearbeitet“. Wer die offizielle Linie nicht teile, habe es jedenfalls schwer, sagt Ken. Er wünscht sich von der Reiseindustrie ein entschiedeneres Auftreten in Canberra.
„Denn wenn es das Riff nicht mehr gibt, gibt es auch uns nicht mehr.“ Auch die internationale Gemeinschaft müsse endlich aktiv werden. „Das Riff gehört der ganzen Welt. Wir Australier sind nur die Verwalter. Und wir machen einen verdammt schlechten Job.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus