Zukunft des Zirkus: Salto mortale
Die Abgesänge auf den Zirkus häufen sich, viele große Namen sind verschwunden. Dafür boomen heute die Weihnachtszirkusse. Eine Liebeserklärung.
Beginnen wir diese Geschichte dort, wo sie fast immer beginnen, die Geschichten vom Zirkus: in der Kindheit. Fünfziger Jahre, Wilhelmsburg, ein Arbeiterstädtchen in Niederösterreich. Hier wächst Bernhard Paul auf. Eines Nachts kommt ein Zirkus in die Stadt: der große Rebernigg. Hunderte bunte Zirkuswagen überschwemmen den Ort. Weil der Zirkusplatz zu klein ist, stehen sie in jeder Gasse. „Du wachst auf, gehst raus und denkst dir: Was ist denn da los? Boah!“ Es sind zwei, drei Tage, an denen Wilhelmsburg farbig wird. Als hätte Willy Brandt mal eben auf einen Knopf gedrückt.
Paul verbringt jede freie Minute auf dem Zirkusplatz. Exotik, Erotik, Artistik – und natürlich die Clowns! Der Junge ist infiziert, hat sich die schönste und hartnäckigste aller Kinderkrankheiten eingefangen. Natürlich will er am letzten Tag mit dem Zirkus durchbrennen. Wer will das nicht damals? Er kommt bis zur Ortsausfahrt. Dort zieht ihn der Vater aus dem Wagen.
Die sprichwörtliche Lücke, die etwas hinterlässt – beim Zirkus ist sie sichtbar. Der leere Zirkusplatz, wo tags zuvor noch die Pferde ihre Kreise zogen, die Clowns ihre Sketche darboten, die Feuerspucker Feuer spuckten. Alles weg. Wo gestern noch Farbe war, herrscht wieder grauer Alltag.
Anderntags geht der verhinderte Ausreißer zum Zirkusplatz. Am Boden zeichnet sich nur noch ein Kreis aus Sägemehl ab. „Ich bin da gesessen und hatte das Gefühl, meine Familie hat mich verlassen. Dann habe ich im Sägemehl noch ein paar Pailletten gefunden, die habe ich heute noch.“
Es war ziemlich genau zu dieser Zeit, als im Spiegel ein Artikel über den Ruin des Zirkus erschien. Darin hieß es: „So teuer die Erinnerungen an das kindliche Staunen über die Manegenwunder dem Herzen des heutigen Großstädters sein mögen, niemand sieht daran vorbei, dass ein Asphalt-Mensch auf den traditionellen Fez mit Tschingdarassa, Trommelwirbel und ,Allez-hopp' so wenig anspringt wie ein Sack feuchtes Sägemehl.“ Und 1970 erzählte der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre: „Vor zwei Jahren ging ich wieder in den Zirkus. Ich wollte wissen, ob er schon tot ist oder nicht.“ Schließlich sei er „heute schon ein vollkommener Anachronismus“. Die Sitte, seinen Tod anzukündigen, gehört zum Zirkus wie Pferde und Popcorn, sie ist so alt wie die ersten Filmprojektoren. Mindestens.
So ganz grundlos waren die Prophezeiungen ja nie. Sind sie auch heute nicht. Viele Großzirkusse sind in den vergangenen Jahrzehnten zugrunde gegangen. Williams, Althoff, Hagenbeck, Busch-Roland et cetera. Auch viele der großen Namen auf internationaler Bühne von Benneweis in Dänemark bis Mora Orfei in Italien sind von der Bildfläche verschwunden. „The Greatest Show on Earth“ nannte sich der Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus in den USA. Im Mai gab er in einem Vorort von New York seine letzte Vorstellung.
Wolfdietrich Schnurre, Autor
Es sind die fehlenden Plätze in den Städten, die immer höheren Transportkosten, die Bürokratie und der Lärmschutz, die es für den Zirkus heute so schwer machen. Vor allem aber ist es die unglaubliche Konkurrenz, die Fernsehen, Internet und großstädtisches Nachtleben bieten.
Früher, da hatte der Zirkus noch einen ganz anderen Stellenwert, Namen wie den des Jongleurs Enrico Rastelli, des Dompteurs Kapitän Schneider oder des Clowns Grock kannte jeder. Der Zirkus brachte Stars hervor wie sonst nur das Kino. Und selbst dort war der Zirkus allgegenwärtig. Chaplin verneigte sich vor dem fahrenden Volk genauso wie Fellini.
Und heute? Da weckt das Wort Zirkus bei vielen Menschen nur noch Assoziationen irgendwo zwischen Tierquälerei, Kindergeburtstag und Horrorclowns. Und doch: Die Weihnachtszirkusse boomen, einige Spartenzirkusse ebenso. Und im neuen Jahr feiert er seinen 250. Geburtstag, der Zirkus. Tschingderassa.
Vielleicht liegt es an Menschen wie Bernhard Paul. Welche, die sich das kindliche Staunen nicht haben austreiben lassen. Die den Zirkus der Vergangenheit lieben und den der Zukunft gestalten wollen. 1974 beschloss Paul, alles hinzuschmeißen – um Zirkusdirektor zu werden. Er war damals ein erfolgreicher Art Director in Wien, arbeitete zuletzt in einer Werbeagentur, als die große Sinnfrage auf ihn herniedersauste. Konnte das schon alles gewesen sein? Es konnte nicht. Die Liebe zum Zirkus hatte Paul ohnehin nie verloren – obwohl sie in seinem Umfeld auf wenig Verständnis stieß. So meinte der Künstler Manfred Deix, guter Freund aus Studientagen, nur: „Wos hast’n mit deinem Zirkus, bist du deppert?“ Man muss dazu wissen: Damals war der Zirkus gerade auf einem seiner Tiefpunkte angelangt. Dann machen wir es halt besser, sagte sich Paul und gründete – kurzzeitig mit André Heller an seiner Seite – den Circus Roncalli. „Wer nicht verrückt ist, ist nicht normal“, sagt Paul.
Bernhard Paul sitzt in seinem Wohnwagen, Salonwagen wäre wohl das passendere Wort. Draußen fährt die Münchner Trambahn vorbei. Heinz Rühmann, Gert Fröbe, Andy Warhol, Musiker, Schriftsteller, Bundespräsidenten – mit allen ist er hier schon an diesem Tisch gesessen. Paul trägt sein übliches Outfit: dünne Lederjacke, Schal, nur die Brillengläser sind nicht mehr ganz so groß wie früher. 70 ist er jetzt. „Ich habe mir gedacht: So wie damals beim Rebernigg, so will ich es auch“, erzählt er. Und so begann er, wo immer es sie noch gab, alte Zirkuswagen aufzukaufen und zu restaurieren. Zur Würstelbude wurde der über 100 Jahre alte Raubtierwagen von Carl Krone, dem Begründer des Circus Krone.
Die Gitterstäbe, durch die gefüttert wurde, waren noch dieselben, nur die Richtung hatte sich geändert. Und der rote Mohair-Samt, mit dem die Logenstühle bezogen sind, kommt von dem Hersteller, der auch das Wiener Burgtheater beliefert. Hier ist nichts dem Zufall überlassen, alles durchgestylt bis hin zum Mülleimer. „Perfektionisten sind arme Schweine“, lautet einer von Pauls Lieblingssätzen. Er muss es wissen, er ist einer von ihnen.
Roncalli – allein der Name! Klingt nach Rastelli und Houdini. Duftet nach Sägemehl und Bratwurst. Dass es auch der bürgerliche Name des zirkusaffinen Papsts Johannes XXIII. war, der Heller und Paul bei der Namensgebung inspirierte – eine nette Randnotiz. Und dann die Vorstellung: Von Anfang an hatte Roncalli Nummern im Programm, an die sich andere nie getraut hätten. Elvira Lühr etwa. Ganz hohe Schule, was sie mit ihrem Pferd vollführte. Doch die Frau war bereits gute 70 Jahre alt. Eine Rentnerin in der Manege? Die Zirkuswelt schüttelte den Kopf, das Publikum applaudierte.
Oder David Shiner: Paul hat den Amerikaner in Knickerbockers vor dem Centre Pompidou aufgegabelt. Clown? Straßenkünstler! Beim Pariser Festival „Zirkus von morgen“ hätten sie ihn fast disqualifiziert. Paul engagierte ihn – und wenig später schrieb Shiner mit seiner Melange aus Improvisation, Pantomime und Publikumsbeteiligung mit an der Roncalli-Erfolgsgeschichte. Lange stand auch Paul selbst als Dummer August in der Manege, nannte sich Zippo.
Statt einer Aneinanderreihung von Nummern bot Roncalli eine Gesamtinszenierung. Die Musik natürlich live. Und immer ein bisschen mehr Theater als Leistungsschau. Ein Salto mehr oder weniger, wen kümmerte es? Den Superlativen der Spitzenartistik, derer sich die Großzirkusse der Siebziger rühmten, setzte Roncalli die „größte Poesie des Universums“ entgegen.
Draußen laufen die letzten Vorbereitungen für die Abendvorstellung. Vor dem Eingang stehen Hunderte Menschen Schlange. Dann der große Moment. Die Kapelle spielt auf, der Einlass beginnt. Die Künstler begrüßen die Besucher, reichen Bonbons, werfen Konfetti. Auch zwei komische, mannshohe Vögel sind da. Das Popcorn wird frisch zubereitet. Die Musiker spielen „Here Comes the Sun“, die beiden Vögel tanzen.
Das Spiel kann beginnen. Da ist das Schleuderbrett-Trio Csàszàr, man kennt es schon aus den Neunzigern, als der Spitzenjongleur Ty Tojo noch gar nicht geboren war. Karl Trunk präsentiert die Größten und Kleinsten der Pferdewelt. Und Paolo Casanovo ist Roncalli in Reinform, wenn er etwa auf einem Hochrad in die Manege einfährt und einem Roboterhund ein Herz schenkt, dazu der Soundtrack von „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Der große Star aber ist Beatboxer Robert Wicke. Wieder so ein Straßenkünstler. Am Ende hat er das Publikum so weit, dass es im Chor Brahms’ Wiegenlied anstimmt: „Morgen früh, wenn Gott will …“
Was also macht diese Faszination des Zirkus aus, lässt Buben durchbrennen und veranlasst eine Oma in Wien am Tag nach der Vorstellung mit der Tram zum Zirkus zu fahren, nach dem Direktor zu fragen und ihm einen selbstgebackenen Guglhupf zu überreichen: „Herr Roncalli, ich wollt’ Ihnen eine Freude machen. Es war so schön.“ Ja, was?
Bernhard Paul, Zirkusdirektor
Es geht um das Wesentliche
„Der große Reiz ist das Miteinander“, sagt Stefan Langmeyer. „Da arbeiten verschiedene Nationen zusammen und es funktioniert.“ Vor Langmeyer liegen zwei Aktenordner, daneben hängt an einem Ständer ein Wimpel mit dem Logo der Gesellschaft der Circusfreunde in Deutschland e. V. „Wir sind nicht diese Vereinsmeier“, sagt er. Der 44-jährige Krankenpfleger ist seit 2014 im Präsidium der Gesellschaft. Vor 62 Jahren wurde die Gesellschaft der Circusfreunde gegründet, 2.000 Mitglieder hat sie. Einmal im Monat trifft sich Langmeyer mit Gleichgesinnten im Hinterzimmer des Rumpler, einer Gaststätte im Münchner Glockenbachviertel. Die Tapete ist grün, das Essen gutbürgerlich. Zu fünft sind sie heute.
„Zirkus ist etwas, was jeder versteht“, sagt Langmeyer. „Vom Kind bis zu den Großeltern, vom Akademiker bis zum Hilfsarbeiter.“ Warum der Zirkus nicht mehr zeitgemäß sein soll, versteht er nicht. „Das kann ich auch über die Oper sagen.“ Langmeyer hat ein paar Raritäten aus seiner Sammlung mitgebracht, das wertvollste Stück: ein Programmheft von Barnum & Bailey auf der Deutschland-Tournee 1900. 20 Heller hat es damals gekostet. Und dann sagt er noch: „Zirkus ist ein Live-Erlebnis für alle Sinne. Man sieht’s, man hört’s, man riecht’s.“
In der Tat erfasst uns der Zirkus ohne Umwege und – so paradox die zirzensische Metapher klingen mag – ohne Netz und doppelten Boden. Ernst Bloch nennt ihn „die einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche Darbietung, die die Kunst kennt“, Ernest Hemingway „den einzigen Ort der Welt, wo man mit geöffneten Augen träumen kann“, und Walter Benjamin findet: „Im Zirkus muss ja selbst dem Borniertesten aufgehen, um wie viel näher am Wesentlichen, wenn man will, am Wunder gewisse physische Leistungen stehen als die Phänomene der Innerlichkeit.“
Das Ehrliche, das Wesentliche, genau darum geht es. Im Zirkus treffen wir auf Grenzgänger, die uns Zuschauer mitnehmen, im besten Fall mitreißen, während sie bis zum Äußersten gehen. So gewähren sie uns einen kurzen, wenn auch ungefährlichen Blick in den Abgrund.
Und dann hat der Zirkus natürlich immer auch mit früher zu tun, mit den Erinnerungen, die man hat oder auch nur zu haben vermeint. Er befriedigt die Nostalgie, dieses Bedürfnis, in einem unbeobachteten Moment wider besseres Wissen einmal dem Gefühl nachhängen zu dürfen, dass früher halt doch alles besser gewesen sei.
Es war im Jahr 1768, da eröffnete der ehemalige Kavallerist Philip Astley in London ein Pferdetheater – ein Ereignis, das gemeinhin als Geburtsstunde des modernen Zirkus gilt. Nach und nach nahm Astley auch Clowns und Akrobaten ins Programm und begründete diesen speziellen Dreiklang aus Artistik, Tieren und Clowns. Neu auch die Manege. Durchmesser: 13 Meter, das ideale Maß für Pferdenummern, Standard bis heute.
Wer der guten alten Zeit des Zirkus nachspüren will, macht sich am besten auf den Weg nach Einbeck. 30.000 Einwohner, irgendwo zwischen Göttingen und Hannover. Hier lebt Gerd Siemoneit-Barum, er war der letzte Direktor des Circus Barum. Ein Mann mit Hut und federndem Gang. 86 Jahre ist er jetzt alt. Lange Zeit war er der Raubtierdompteur Deutschlands. Die Nummer, die ihn berühmt machte: Onyx, der Schwarze Panther, der vom Podest direkt in seine Arme springt. Mit 15 ging der gebürtige Ostpreuße zum Zirkus. Sein erster Job beim Circus Barum, den er dann Ende der Sechziger kaufen sollte: den Vorhang auf- und zuzuziehen.
Jetzt sitzt Siemoneit-Barum in einem Einbecker Café und erzählt von früher. Filterkaffee und ein Käsebrot hat er bestellt. 18. November 2001 in Fulda, natürlich kann sich Siemoneit-Barum noch gut an seinen letzten Auftritt als Dompteur erinnern. „Seit ich zwölf Jahre alt war, wollte ich mit Raubtieren in der Manege stehen. Und jetzt war das alles vorbei.“ Zigtausende Mal hatte er den Zentralkäfig betreten. Sieben Jahre später folgte das Ende des Circus Barum. Geplant war ursprünglich, dass seine Kinder ihn übernehmen würden. Doch dann riet er ihnen selbst davon ab. „Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass die Zeit, in der man einen Zirkus führen konnte, wie er meinem Ideal entsprach, vorbei ist.“
Es ist ja nicht so, dass er sich nicht immer wieder aufgerappelt hätte. Nicht nur damals, als er im August 1954 bei einem Gastspiel in Ankara plötzlich unter der 150 Kilo schweren Löwin Senta und danach vier Wochen im Krankenhaus lag. Auch als die Zuschauer ausblieben, Anfang der Achtziger, dann wieder Ende der Neunziger. „Einen Zirkus zu betreiben ist Roulette“, sagt er. Siemoneit-Barum ist ein Mann mit vielen Narben. Aber es liegt keine Bitterkeit in seinen Worten. Eher Dankbarkeit. „Ich bin ganz ehrlich: Im Grunde genommen habe ich es gerade noch geschafft, den Zirkus in seiner vollen Blüte zu erleben.“
Die Show muss weitergehen, heißt es im Zirkus. Muss sie? Kann sie? Hat diese große Volkskunst wirklich noch eine Zukunft? Oder hat Siemoneit-Barum recht, wenn er sagt: „Wer nicht einsehen will, dass die Zeiten sich geändert haben, der muss die Konsequenzen tragen.“
Es gibt sie ja, die erfolgreichen Unternehmen: Akrobatikshows, Pferdepaläste, Dinnerdarbietungen, sogar Horrorzirkusse. Aber: Ist das noch Zirkus? Wo verläuft die Grenze? Wenn es keine Tiere mehr gibt? Kein Zelt? Kein Sägemehl? Keine Zirkuswagen? Der kanadische Unterhaltungsriese Cirque du Soleil, der Träume vom Fließband liefert, hat in vielen seiner Shows schon auf all das verzichtet.
Und Roncalli? „Wir sind ein reisender Feinkostladen der Artistik“, sagt Bernhard Paul. „Und zeitgemäß.“ Künftig nimmt er auch Foodtrucks mit auf die Tour, bietet veganes Essen an. Außerdem verzichtet er auf Pferde im Programm, die letzte Tiernummer, die es noch gab. Dem Zeitgeist nachhecheln, das wolle er auf keinen Fall, sagt Paul. Aber natürlich weiß er, dass zwischen dem Zeitgemäßem und dem Zeitgeist manchmal nur ein schmaler Grat verläuft.Zirkus ohne Pferde? Eigentlich müsste es Paul das Herz zerreißen. Und er sagt ja selbst: „Wir sind mit Pferden aufgewachsen. Der Zirkus ist durch Pferde entstanden. Nur deshalb ist die Manege rund, nur deshalb gibt es das Sägemehl.“ Eliana Larible, seine Frau, hat lange mit Pferden in der Manege gearbeitet. Aber die Plätze werden kleiner, die Besucher, die Tierhaltung im Zirkus ablehnen, mehr. „Natürlich sind wir traurig“, sagt Paul. Aber die Besucherzahlen geben ihm recht – die Vorstellungen sind regelmäßig ausverkauft.
Auch die kleinen Familienzirkussen haben ihre Nische gefunden. Rund 300 von ihnen soll es in Deutschland geben, ihr Programm haben sie ganz auf Kinder ausgerichtet. Es sind Zirkusse wie der von Karl-Heinz Renz. „Kult-Circus Renz“ nennt er sich. Es ist Freitagnachmittag, Taufkirchen bei München, gut 80 Besucher sind gekommen. Es treten auf: Vater Renz mit drei Friesen, aber auch als Reiter, Messerwerfer und Requisiteur. Die beiden Töchter – zu Pferd, in der Luft, mit Hula-Hoop-Reifen. Dazu ein Pudel und Clown Pepino, der Manege mit Mayonnaise verwechselt. Hereinspaziert in den realexistierenden Zirkus des 21. Jahrhunderts! Klingt böse. Ist es nicht. Das Lachen der Kinder ist echt. In der Tierschau streicheln sie noch das Pony oder reiten auf dem mongolischen Steppenkamel, während sich Oma die Boa constrictor umlegen lässt.
„Geht nach Hause und träumet“, ließ André Heller 1976 den durch den Abend führenden Sprechstallmeister sagen, „geht nach Hause und seid bestürzt, geht nach Hause und lacht, geht nach Hause und seid wahrhaftig. Der Zirkus hat seine Vorstellung beendet, in diesem Zelt. In unserem Kopf, meine Herrschaften – in unseren Köpfen geht die Vorstellung weiter. Aufwiederträumen – Aufwiederdenken – Aufwiedersehen.“
Halt, hochverehrtes Publikum, ein letzter Tusch noch! Für den größten, besten und schönsten Zirkus der Welt mit der größten Zeltstadt Europas, einer gigantischen Elefantenherde, den stärksten Männern der Mongolei, den Besten der Besten aus der internationalen Zirkuswelt. Nun gut, die Adjektive sind geklaut, stammen aus der Pressemappe des Circus Krone. Er hat gerade in Stuttgart sein Zelt aufgebaut, die Lichter spiegeln sich im Neckar.
Inmitten dieser Welt der Superlative sitzt ein Mann mit Schiebermütze: Martin Lacey jr. Er hat sich in eine der Logen gesetzt und beobachtet seinen Sohn Alexis beim Boxtraining in der Manege. „Gut machst du das“, ruft er ihm zu. „Mir gefällt dein Haken.“ Lacey ist der Raubtierdompteur des Circus Krone. Beim Zirkusfestival in Monte-Carlo hat er schon zweimal einen Clown abgeräumt. 26 Löwen und Tiger führt er gleichzeitig in der Manege vor. Ein Rekord.
Seit 16 Jahren arbeitet der heute 40-Jährige nun bei Krone, seine Frau ist hier die Chefin. Lacey ist ein echter Showman. „Ich liebe es, wenn der Löwe mich angreift, und plötzlich lässt eine Frau vor Schreck das Popcorn fallen“, erzählt Lacey. „Vor ein paar Tagen hat ein Mann gerufen: Pass auf, Junge!“ Die Angriffe der Raubkatze sind natürlich inszeniert. Und doch fragt sich der Zuschauer in dem Moment: War das wirklich so geplant?
Lacey liebt seinen Job, liebt seine Tiere. Das Schlimmste für ihn sei es, wenn man ihm Tierquälerei vorwirft, sagt er. Mahnwachen von Tierrechtsaktivisten gehören jedoch schon fast zum Alltag des Circus Krone. Auch vonseiten der Politik wird der Druck auf Tierzirkusse größer. So hat Stuttgart jüngst ein Wildtierverbot für Zirkusse erlassen. Nur wegen einer derzeit noch gültigen Ausnahmegenehmigung kann Krone hier überhaupt gastieren. Der Zirkus wollte die Gelegenheit des Gastspiels nutzen, lud die Lokalpolitiker zu einer Führung ein, damit sie sich selbst ein Bild von Krones Tierhaltung machen könnten. Von 60 Stadträten kam kein einziger.Nicht selten prallen in der Debatte Emotionen auf Argumente, vieles wird über einen Kamm geschert: Zirkusse, Tierarten … Wer wie beispielsweise die US-Organisation Peta Tierhaltung prinzipiell ablehnt, mit dem lässt sich über gute und schlechte Haltungsbedingungen nur schwer diskutieren. In Kassel gab es jüngst Proteste, als der Action-Zirkus Flic Flac erstmals zwei Tiernummern präsentieren wollte. Die bekannte Tierlehrerin Rosi Hochegger sollte auftreten – mit einem Pferd und ein paar Hunden. Anonyme Anrufer drohten daraufhin, das Zelt abzubrennen. Rosi Hochegger sagte ab.Im Wagen mit der Nummer 80 sitzt Jana Lacey-Krone, die Direktorin des Circus Krone. Nachdem ihre Adoptivmutter Christel Sembach-Krone im Juni gestorben ist, hat Lacey-Krone nun in fünfter Generation den Zirkus übernommen. Sie kommt aus keiner Zirkusfamilie und ist doch ein Zirkuskind: Ihre Eltern, Machy und Urs Pilz, zwei Schweizer Zirkusfans, waren enge Freunde von Christel Sembach-Krone. Da der Vater selten zu Hause und beruflich ständig unterwegs war, beschloss die Mutter, mit dem Zirkus mitzureisen. So war Jana schon zwei Wochen nach ihrer Geburt im April 1979 mit auf Tournee. Urs Pilz hat sich mittlerweile ebenfalls komplett dem Zirkus verschrieben: Er organisiert das Festival in Monte Carlo.
Das Handy klingelt. „Nein“, sagt Lacey-Krone, „jetzt müssen wir erst mal den Mist wegbringen.“ Mist gibt es viel im Zirkus, rund hundert Tiere hat der Circus Krone unterwegs dabei. Aber Krise? „Nein. Ich kann nur für uns selbst antworten. Zu uns kommen die Zuschauer noch immer.“ Natürlich laufen die Geschäfte auch beim Branchenriesen mal besser und mal schlechter, aber während andere Unternehmen strauchelten, konnte sich der Zirkus Krone immer gut über Wasser halten. Mit dem Circus-Krone-Bau, dem einzigen festen Zirkusbau in Deutschland, hat das Unternehmen zudem eine Spielstätte im Winter – und ein zweites Standbein in den Sommermonaten.Inzwischen ist es später Nachmittag, die Pause ist gerade zu Ende, die Manege in blaues Licht getaucht. Nur schemenhaft erkennt man die Löwen und Tiger, wie sie durch den Laufgang in den Zentralkäfig huschen. Mittendrin: Martin Lacey jr. Die Tiere drehen wilde Runden an der Käfigwand, machen Scheinangriffe und Männchen, springen über ihren Dompteur oder schmusen mit ihm. Am Ende: stehende Ovationen.Bei Krone hört man es nicht gern, wenn der eigene Zirkus von Leuten wie Bernhard Paul – einem bekennenden Krone-Fan übrigens – als „Dinosaurier“ bezeichnet wird. Dabei liegt vielleicht genau darin die letzte Chance für den traditionellen Großzirkus, wenn er neben hippen Akrobatik- und Kulinarikshows bestehen will: offensiv retro zu sein, im besten Sinne gestrig.
Modern in Sachen Tierhaltung und Technik, altmodisch in der Ausgestaltung des Programms. Dem Besucher eine Reise in die Vergangenheit, vielleicht in die eigene Kindheit, ermöglichen, ihm eine Pause gönnen von der sich immer schneller drehenden Welt, ihm die kurzzeitige Flucht von der digitalen in die analoge Welt ermöglichen. Der Zirkus als Fluchthelfer – wie gut könnten wir ihn heute in dieser Funktion gebrauchen. „Wenn ich in der Pause ins Zelt gehe“, sagt Susanne Matzenau, die Pressesprecherin des Circus Krone, „und kein Einziger hat sein Smartphone eingeschaltet, weiß ich, wir haben gewonnen.“
Einer der Slogans, mit denen Krone um seine Zuschauer wirbt, lautet: „Vergessen Sie alles, was Sie über Circus wissen.“ Sagt man halt so. Nur ist genau das die Gefahr für den traditionellen Zirkus, das Vergessen. Der Tag, an dem die Zuschauer die Aufforderung wörtlich nehmen, wird sein letzter sein.
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