Zugriffe auf die Wirklichkeit: Kino versus Galerie
Künstler und Dokumentarfilmer debattierten in Köln über dokumentarische Verfahren in der Kunst. Einen gemeinsamen Zugang zu ihrer Arbeit fanden sie nicht.
Oft reiten viel beschäftigte Referenten bei Tagungen nur für eine Nacht ein. Bei der diesjährigen Tagung der Dokumentarfilminitiative (dfi) in Köln zu dokumentarischen Verfahren in der Kunst aber blieben viele der geladenen Wissenschaftler und Künstler die vollen drei Tage, obwohl – oder weil – die Veranstaltung kein in viele Sektionen ausufernder Weltkongress, sondern ein überschaubarer Spezialistentreff war.
Von Beginn an dabei auch der Turner-Preis-nominierte Glasgower Filmkünstler Luke Fowler, der sich am Sonntag erst mal entschuldigte, mangels Deutschkenntnissen vieles nicht verstanden zu haben. Er hoffe darum, nicht mit Wiederholungen zu langweilen.
Unbegründete Sorgen: Denn der gar nicht mehr so junge (Jahrgang 1978), aber jungenhaft aussehende Mann glänzte nicht nur im einstündigen Gespräch mit allürenfreier Kompetenz in europäischer Geistesgeschichte. Auch sein in Köln vorgestelltes R.-D-Laing-Porträt passte zu den dort gestellten Fragen nach der dokumentarischen Befruchtung künstlerischer Ausdrucksweisen. Aber was heißt schon „Porträt“?
„All Divided Selves“ ist eine aus Archivmaterialien und selbst gedrehten lyrisch-persönlichen Ein-/Überlagerungen raffiniert kompilierte Bild-Ton-Collage, die die Rehabilitierung der im öffentlichen Diskurs zur Karikatur verkommenen Figur des Psychiatriekritikers mit medienkritischen Reflexionen kontrapunktiert und das Publikum in einen Sog synästhetischer Erfahrung reißt: perfekte Symbiose von politischem Impetus und ästhetischer Vollendung.
Kunst der Wirklichkeit
So ist die von Galerien produzierte und in Köln als 90-minütiger Film vorgestellte Arbeit aus dem filmkünstlerischen Zwischenreich auch anregendes Beispiel „Dokumentarischer Verfahren in der Kunst“, wie die Dokumentarfilminitiative das Symposium betitelte. Ein angesichts des sich öfter der Wirklichkeit zuwendenden Kunstgeschehens naheliegendes Thema, dessen Formulierung sich aber als vertrackt erweist. Denn was überhaupt sind – jenseits der Recherche – „dokumentarische Verfahren“? Und was ist – jenseits des institutionellen Betriebs – die Kunst?
Das Fehlen von begrifflicher Klärung und eine unglücklich zu Anfang platzierte installative Auftragsarbeit der bisher klassisch dokumentarisch arbeitenden Filmemacher Ulrike Franke und Michael Loeken („Opel. Eine Suche nach Zukunft“, 2011) löste Abwehr aus und führte zur Fixierung der Debatte auf den Kontrast zwischen naivem Dokumentarfilm und avanciert selbstreflexivem Kunstschaffen, zwischen Kinodoku und installativen Praktiken, wie sie seit den 1970ern auf den Kunstmarkt drängen. Zeit vs. Raumkonzept, narrative Linearität vs. flächige Collage heißen die Stichworte, die die unterschiedliche ästhetische Erfahrung in Kino und Galerie/Museum fokussieren.
Die Künstler interessieren sich vor allem für die Wirkung im Raum, Dokumentaristen für die visuelle Materialität, berichtete Barbara Engelbach, Kuratorin für Fotografie, Film und Video am Museum Ludwig, in einem Tätigkeitsbericht, der am Beispiel dreier an unterschiedlichen ’Logiken‘ (Diagramm, Archiv, Choreografie) ausgerichteten Ausstellungen zu Filmemachern in ihrem Haus (Harun Farocki, Jonas Mekas, Yvonne Rainer) zeigte, wie auch das Kuratieren ein dokumentarisches Verfahren ist.
„Fiktionalisierungsverfahren“
Oder wäre vielleicht der Begriff „Fiktionalisierungsverfahren“ nützlicher? Den hatte der Videokünstler Marcel Odenbach in die Debatte gebracht. Denn sowohl künstlerische wie dokumentarische Praxis sind ja nur unterschiedliche Formen, den Zugriff auf die Wirklichkeit zu inszenieren.
Leider blieben nach der anfänglichen Aufregung Debatten weitgehend aus. Viele Gespräche blieben, auch mangels moderierenden Eingreifens, im Rahmen der auch bei Filmfestivals üblichen werkbiografischen Fragen und Antworten. Auf merkwürdige Weise unangesprochen blieben auch die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Produktion von Dokumentarfilm und Kunst stattfindet.
Denn Letztere scheint ja mit ihren Auftragsarbeiten, Stipendien und Preisen nicht nur formal, sondern auch finanziell ein Fluchtort mancher Dokumentaristen zu sein, deren Fernsehformatgrenzen sprengende Projekte über die üblichen Förderwege nicht mehr zu finanzieren sind. Sicher, reich werden dürften Filmer auch im Kunstmarkt nur selten. Doch Dietrich Leder, Professor an der Kunsthochschule für Medien in Köln, brachte es auf den Punkt: Der symbolische Wert der Kunst übersteigt das reale Geld des TV-Kinos erheblich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebungen syrischer Geflüchteter
Autokorsos und Abschiebefantasien
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Sturz des Syrien-Regimes
Dank an Netanjahu?
Greenpeace-Vorschlag
Milliardärssteuer für den Klimaschutz
Kürzungen im Kulturetat von Berlin
Gehen Kassiererinnen in die Oper?