Dokfilmfestival Leipzig: Filmen als verlängerte Therapie
Ein Publikumsmagnet, zu dem auch Regisseure ohne Filme anreisen. Zu sehen gab es tolle osteuropäische Dokumentationen.
Das 55. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, das am Sonntag zu Ende ging, war wieder ein schöner Erfolg. In seiner Eröffnungsrede hatte Festivaldirektor Claas Danielsen noch über ein mögliches Scheitern sinniert: Was, wenn diesmal das Rekordzuschauerergebnis des letzten Jahres nicht übertroffen werde, „was, wenn sich weniger Fachbesucher akkreditieren? Und tief drinnen weiß ich: Der Einbruch wird kommen, unbegrenztes Wachstum ist nicht möglich.“
Der Einbruch kam nicht, das Rekordergebnis vom letzten Jahr wurde eingestellt. Während dem Fernsehen die Zuschauer wegbröckeln, nimmt das Zuschauerinteresse bei Filmfestivals weiterhin zu. Es macht schlicht mehr Spaß, sich Dokumentationen in vollen Kinos mit anschließendem Filmgespräch während der DOK-Filmwoche anzuschauen, als spätabends allein vor dem Fernseher dieselben, oft gekürzten und synchronisierten Fassungen anzusehen.
Festivals – nicht nur das in Leipzig, das in einer „DOC-Alliance“ mit fünf anderen verbunden ist – versuchen erfolgreich, den Filmemachern eine Homebase zu geben. Die Berliner Filmemacherin Sandra Prechtel etwa kam für einen Tag, obgleich ihr neuer Film über Roland Klick abgelehnt wurde (er läuft nun auf der Berlinale).
Der junge bulgarische Filmemacher Ilian Metev, der 2008 die „Talent-Taube“ in Leipzig gewann, realisierte mit dem Preisgeld (nicht nur) seine neue Dokumentation „Sofia’s Last Ambulance“, die mit der „Silbernen Taube“ ausgezeichnet wurde. „Sofia’s Last Ambulance“ ist eine Art Roadmovie, das größtenteils im Inneren eines Krankenwagens spielt, der durch die bulgarische Hauptstadt von Einsatz zu Einsatz holpert.
Zigarettenpause
Meist sieht man die Gesichter des so fotogenen wie sympathischen Einsatzteams. In Pausen rauchen Doktor Krassimir Jordanow und Schwester Mila, die alle Patienten liebevoll mit „Liebling“ und „Schatz“ anredet. Ilian Metev verzichtet darauf, die Patienten abzubilden. Da lediglich 13 Krankenwagen in der 1,2-Millionen-Metropole im Einsatz sind, kommen sie manchmal zu spät. Lediglich 200 Euro pro Monat erhält das Notfallpersonal für die Arbeit, so gibt es zu wenige, die diesen Job machen wollen.
Auf dem Festival liefen sozusagen klassisch osteuropäische Dokumentationen wie der lettische Film „Documentarian“ von Ivars Zviedris und Inese Klava, der von einer schrulligen, im Wald lebendenden Frau erzählt, die den Filmemacher, der sie porträtiert, ausgiebigst beschimpft.
Ein letztlich ähnliches (und mit der „Talent-Taube“ ausgezeichnetes) Porträt des österreichischen Filmexzentrikers Peter Kern, bei dem man auch das Gefühl hatte, nicht die Regisseure Severin Fiala und Veronika Franz, sondern der Porträtierte führte eigentlich die Regie. Und einige sehr schöne, sozusagen therapeutische Arbeiten.
Andy Wolffs „Der Kapitän und sein Pirat“ ist dabei spektakulär. Vier Monate lang befand sich das deutsche Frachtschiff „Hansa Stavanger“ vor der Küste Somalias in der Hand von Piraten. Dann wurde das Lösegeld bezahlt; die Crew kam wieder frei. Der Film erzählt die Geschichte dieser vier Monate aus der Sicht des Piratenanführers Ahado und der des alten Kapitäns Krzysztof Kotiuk. Nachdem aus Deutschland wochenlang keine Hilfe kam, begann der Kapitän mit den Piraten zu kooperieren, um seine Crew zu retten.
Der Film begleitet den Kapitän
Alleingelassen von seiner Crew, beginnt er sich mit dem eloquenten Anführer der Piraten zu befreunden. Nachdem alle wieder frei sind, wird er von seiner Reederei entlassen. Der Film begleitet den Kapitän etwa auf einer Therapie, bei der er versucht, das Geschehene zu verarbeiten. Gleichzeitig ist der Film Teil dieser Therapie, die sich bis ins Festival fortsetzt, wo der Kapitän begehrter Gesprächspartner ist.
In anderen Filmen, wie dem georgischen „The Machine Which Makes Everything Disappear“ von Tinatin Gurchiani, schafft die Kamera eine therapeutische Situation, innerhalb derer die, die vor ihr stehen, freier sprechen können als in ihrem eigentlichen Leben.
Die Regisseurin hatte junge Leute zu einem Filmcasting eingeladen. Vor der Kamera erzählen sie von ihrem Leben. Manche werden an ihre Heimatorte begleitet. Die Kamera ist dabei, als eine Heldin zum ersten Mal die Mutter besucht, die die Familie verlassen hatte. Sie ist Zeuge der Tränen und Vorwürfe. Eine ganz ähnliche Szene gibt es in dem großartigen Familienfilm „Alleine tanzen“ von Biene Pilavci. Die Regisseurin versucht mit dem Film eine furchtbare Familiengeschichte aufzuarbeiten.
Als Kind misshandelt
Das Leben in ihrer Familie ist bestimmt durch Gewalt. Der Vater schlägt die Mutter und die vier Kinder. Die Mutter schlägt auch. Als Zwölfjährige entkommt die Regisseurin ihren Eltern, indem sie sich die Haut mit Schleifpapier aufrubbelt. Fortan lebt sie in einem katholischen Mädchenheim. Die Geschwister empfinden das Fortgehen ihrer Schwester als Verrat. Irgendwann zeigt die Mutter den Vater wegen Vergewaltigung an. Er kommt in dasselbe Gefängnis wie ein paar Jahre später der kleine Bruder wegen Drogengeschichten.
„Alleine tanzen“ ist aus der Ich-Perspektive erzählt und von einer Intensität, der man sich kaum entziehen kann. Geschwister und Eltern spielen teils widerwillig mit, sprechen aber frei über das, was ihnen in der Kindheit angetan wurde. Ob das therapeutische Unternehmen im echten Leben gelingt, ist fraglich. Als Zuschauer ist man Biene Pilavci für ihren Film dankbar.
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