Zufallsfund im Antiquariat: Rational gegen den Judenhass

Kurz vor der Machtübernahme der Nazis erschien eine Loseblattsammlung mit Argumenten gegen den Antisemitismus.

Rote Rose auf einer Holocaust-Mahnmalstele

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin: Manches aus dem „Anti Anti“ mutet verzweifelt aktuell an Foto: dpa

Der braune Einbandrücken ist an den Kanten brüchig geworden. Das oberste Stückchen dünner Pappe, vielleicht ein Zentimeter lang, hat sich abgelöst und liegt zwischen den Seiten. Dafür gibt es beim Antiquar einen Preisnachlass.

„Anti-Anti“ lautet der in großen tanzenden Buchstaben gedruckte Titel des kleinformatigen Werks. Darunter steht in kleinerer Schrift geschrieben: „Tatsachen zur Judenfrage“. Und: „Herausgegeben vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Ein Autorenname findet sich nicht.

In der Lasche des Einbands liegen, so fein säuberlich übereinander gestapelt, als seien sie niemals gelesen worden, genau 170 lose Blätter. Sie sind in Nummern von 1 bis 80 unterteilt, und jede Nummer steht für ein eigenes Stichwort. Da findet sich unter 5 „Bibelzitate (gefälschte und entstellte)“, 34 ist der „Kultur (Anteil der deutschen Juden)“ gewidmet, und bei 73 geht es um „Talmudübersetzungen“. Manche Stichworte ziehen sich über mehrere Seiten, die entsprechend in „a“, „b“ und „c“ gegliedert sind.

Die Loseblattsammlung ist einer der letzten verzweifelten Versuche der damals numerisch größten Vertretung der deutschen Juden, etwas gegen den grassierenden Antisemitismus zu unternehmen. Die einzelnen Blätter sollten als Argumentationshilfe gegen Judenhasser und die NSDAP dienen. Erschienen ist dieses Exemplar des „Anti-Anti“ vermutlich Ende 1932 oder Anfang 1933, denn es finden sich in der Sammlung einige auf den Sommer 1932 bezogene Anmerkungen. Es sollten also nur noch Wochen bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten vergehen.

Eine Sammlung gegen den Judenhass

Erstmals produziert worden war das Werk allerdings schon 1924 unter dem Titel „Anti-Anti-Blätter zur Abwehr: Tatsachen zur Judenfrage“. Die Idee dazu hatte kein deutscher Jude, sondern ein Bremer Pfarrer: Emil Felden (1874–1959) war Pazifist und Sozialdemokrat und hatte den Centralverein davon überzeugen können, die Sammlung gegen den Judenhass herauszugeben. Felden wurde am 1. August 1933 zwangspensioniert. Seine Bücher zählten zu den verbotenen Schriften.

Die Sumpfblüte des Antisemitismus feierte schon vorher Erfolge, getrieben von der „Dolchstoßlegende“, nach der Juden (und Linke) dem deutschen Heer im Ersten Weltkrieg in den Rücken gefallen seien, bis hin zur mittelalterlichen Ritualmordlügen, mit der behauptet wurde, Juden genössen zu Pessah das Blut ermordeter christlicher Kinder.

Vom „Drange, hier der Wahrheit gegen verhetzende Phrasen zu ihrem Recht zu verhelfen“

Zwei Jahre vor der Erstauflage war der deutsche Außenminister Walther Rathenau ermordet worden. Die Täter, zwei Studenten und ein Ingenieur, kamen aus den Reihen der rechtsradikalen Organisation Consul. Ihnen galt Rathenau als Vertreter der verhassten „Judenrepublik“, die es zu vernichten gelte. Das Attentat auf Rathenau war der wohl prominenteste Mord von rechtsradikalen Verschwörern in der Weimarer Republik, aber es war keineswegs der einzige.

Verzweifelt aktuell

Unter dem Stichwort Rathenau ist im „Anti-Anti“ nachzulesen, dass dieser als „Beweisobjekt für den internationalen Charakter des ‚jüdischen Kapitalismus‘ und der jüdischen Weltherrschaftspläne“ herhalten musste und dass zu diesem Zweck Zitate gefälscht worden seien.

Walther Rathenau ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, und wohl kaum ein Rechtsradikaler käme auf die Idee, seinen Namen und seine Taten als Begründung für den Judenhass anzuführen. Und doch muten manche der Stichworte im „Anti-Anti“ verzweifelt aktuell an, heute, angesichts des Wiederauflebens völkischer Vorstellungen.

Der „Anti-Anti“ schreibt unter dem Stichwort „Kapital“, dass die Nationalsozialisten zwischen „raffendem (‚nicht an den Boden gefesselt‘) Kapital der Banken und ‚schaffendem‘ Kapital der Industrie und der Landwirtschaft“ unterschieden, und stellt fest: „In Wirklichkeit gibt es diesen Unterschied nicht; denn die verschiedenen Arten des Kapitals gehen fortgesetzt ineinander über.“ Klar ist dabei: Das „raffende“ Kapital soll jüdisch infiziert sein.

Die Analogien sind auffällig

Im vergangenen Jahr schrieb AfD-Fraktionschef Alexander Gauland in der FAZ von einer „globalisierten Klasse“, die die Macht in Händen hielte und „zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur“ zöge. Ihr gegenüber stünde derjenige, der „nicht einfach seine Unternehmen nach Indien verlagern kann“, sowie die „vielen sogenannten einfachen Menschen, deren Jobs oft miserabel bezahlt werden oder nicht mehr existieren, die ein Leben lang den Buckel krumm gemacht haben und heute von einer schäbigen Rente leben müssen“.

Nein, hier soll nicht unterstellt werden, dass Gauland ein Antisemit ist. Nur: Die Analogien sind auffällig.

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Der „Anti-Anti“ schreibt: „In den Jahren 1923 bis Mitte 1932 wurden in Deutschland 125 jüdische Friedhöfe geschändet. In mehreren Fällen wurden Nationalsozialisten als Täter festgestellt.“ Rund 90 Jahre später, von 2014 bis 2017, wurden in Deutschland 76 jüdische Friedhöfe geschändet. Nur in vier Fällen konnten die Täter ermittelt werden. Nein, hier soll die Bundesrepublik nicht in eine Linie mit den letzten Jahren von Weimar gebracht werden. So weit sind wir noch lange nicht. Aber: Die Analogien sind auffällig.

Der „Anti-Anti“ schreibt, „die demokratischen Zeitungen, die von völkischer Seite fälschlicherweise als ‚Judenpresse‘ bezeichnet werden, bilden noch nicht einmal den 20. Teil“ aller Blätter. „Die Verjudung der Presse ist also ein Märchen.“

„Israel-Kritik“ ist nicht vohanden

Heute schreien Pegida und verwandte Bewegungen gegen die angebliche „Lügenpresse“ an. Ja, das ist etwas anderes als die „Judenpresse“. Aber die Ähnlichkeit der Begriffe ist auffällig. Der „Anti-Anti“ schreibt, „die Erzählungen vom ‚jüdischen Reichtum‘ gehören in das Reich der Fabel. Nicht vom jüdischen Reichtum kann man reden, sondern von jüdischer Armut.“ Aufgrund solcher Stereotype überfielen vor fünf Jahren drei vermummte Männer ein jüdisches Paar in einem Pariser Vorort und vergewaltigten die Frau. „Ihr Juden, ihr habt Geld“, brüllte einer der Täter.

Es ist nicht der einzige solche Vorfall.

Viele der Einträge im „Anti-Anti“ von 1932/33 haben sich historisch überlebt. Keiner spricht mehr von der „Daweskontrolle“ oder dem „Youngplan“, und auch „Goethe“ (Stichwort Nummer 24) hat deutlich an Bedeutung für judenfeindliche Argumente verloren. Dafür finden sich selbstverständlich keine Stichworte zur „Holocaust-Lüge“, zum „deutschen Schuldkomplex“ oder zur „Israel-Kritik“. Diese gab es damals noch nicht.

Historische Analogien sind heikel: Sie können höchstens Entwicklungslinien erklären. Sie eignen sich aber nicht dazu, platte Vergleiche vom damaligen Kampf gegen den Antisemitismus auf die heutigen Zustände zu ziehen, schon gar nicht, um AfD und ­NSDAP in einen Topf zu werfen – zumal erstere Partei stets darum bemüht ist, sich an Juden heranzuwanzen.

Die 170 Blätter des „Anti-Anti“ stellten den vergeblichen Versuch dar, dem Judenhass mit rationalen Argumenten entgegenzutreten. Die Leser sollten quasi eine Handreichung dafür erhalten, wie sie sich in dem damals durchaus wahrscheinlichen Fall verhalten können, wenn ihr Gegenüber judenfeindliche Argumente präsentiert, geschrieben „aus dem Drange, hier der Wahrheit gegen verhetzende Phrasen zu ihrem Recht zu verhelfen“. Wie bitter nötig das damals erschien, dokumentiert die Auflage der Loseblattsammlung: Bis 1933 wurden immerhin 28.000 Exemplare gedruckt. Nur wenige haben die Nazi-Zeit überstanden.

„Aus Liebe zum deutschen Volke“

Heute werden Versuche, mit Sachargumenten Antisemiten beizukommen, kaum mehr unternommen. Man setzt auf Erziehung, schon in der Schule. Die Vorstellungswelt von eingefleischten Judenhassern aber, so der allgemeine Konsens, ist Argumenten nicht zugänglich. Zudem hat man darauf vertraut, die Bekämpfung des Antisemitismus zur Staatsräson zu erheben, deren Träger als gesellschaftliche Außenseiter zu ächten und im Falle von Straftaten unnachgiebig gegen diese vorzugehen (was auch nicht immer gelungen ist).

Aber es scheint, als seien diese Methoden in der jüngsten Vergangenheit an Grenzen gestoßen. Nicht unbedingt, weil die Zahl der Antisemiten sprunghaft gestiegen sei – das ist sie Studien zufolge nicht –, sondern weil das Unaussprechliche heute wieder auf jedem Schulhof gesagt werden kann.

Auch der „Anti-Anti“ des treu deutschen Centralvereins der Juden vom Beginn der 1930er Jahre kann da nicht weiterhelfen. Aber er ist ein Zeichen dafür, wie dieser Versuch schon einmal misslungen ist. Und wie wenig sich doch geändert hat.

Auf dem 5. Blatt des „Anti-Anti“, am Ende der Vorrede, heißt es: „Wir müssen endlich einmal endgültig dieser unwürdigen Judenhetze im deutschen Volke ein Ende machen, aus Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit gegenüber unseren jüdischen Mitbürgern, aus Liebe zum deutschen Volke, zur deutschen Kultur und wegen des schweren Schadens, den das deutsche Ansehen in der Welt durch die Kulturschande des Antisemitismus erleidet.“

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