Zivilgesellschaft in Tunesien: Wer aufmuckt, wird dichtgemacht
In Tunesien schließt die Regierung vorübergehend hunderte Nichtregierungsorganisationen: von unpolitischen Bürgerinitiativen bis zu oppositionellen Medien.
Mit der vorübergehenden Schließung von Bürgerinitiativen, Medien und von Nichtregierungsorganisationen gehen derzeit die Behörden in Tunesien gegen diejenigen vor, die es einst zum Vorzeigeland des Arabischen Frühlings gemacht hatten. Menschenrechtsorganisationen wie FTDES warnen, dass die im Arabischen Frühling 2011 errungene Meinungsfreiheit in Gefahr sei.
Es gibt keine offizielle Liste der nun betroffenen Organisationen. Schätzungen von rund 500 geschlossenen Organisationen machen die Runde. Betroffen sind etwa kleine, unpolitische Bürgerinitiativen, die in vernachlässigten Regionen Workshops zu Handwerkskunst oder der Arbeit am Computer anboten. Aber auch oppositionelle Medien wie die unabhängige Onlineplattform Nawaat, die kritisch über Korruptionsfälle, Umweltverschmutzung und soziale Probleme berichtete.
Nawaat wurde Ende Oktober für vier Wochen von den Behörden zugemacht. Diese begründen ihr Vorgehen mit der Klärung der Verwendung von Geldern, die seit 2011 an Tunesiens Zivilgesellschaft aus dem Ausland geflossen war. So wurden die Medienschaffenden von Nawaat von deutschen Stiftungen, Projektgeldern der EU und anderen internationalen Fonds unterstützt, die den Demokratisierungsprozess seit dem Arabischen Frühling fördern wollten.
Das Vereinsgesetz in Tunesien ermöglichte auch die Gründung zahlreicher Initiativen mit dem Zweck der Unterstützung politischer Parteien und religiöser Gruppen. Schon im letzten Wahlkampf im Jahr 2024 hatte Präsident Kais Saied gegen die Finanzierung der moderat-islamistischen Ennahda-Partei und radikaler Gruppen gewettert. Der Juraprofessor und Politikquereinsteiger wurde 2019 Überraschungssieger der Präsidentenwahlen und 2024 wiedergewählt.
Manche stehen weiter hinter dem Präsidenten
Auf den Straßen bleibt er teils dennoch beliebt: „Ich stehe noch zu ihm, weil er als Einziger die allgegenwärtige Korruption in Behörden, in Schulen, ach überall bekämpfen kann“, sagt etwa Mohamed Marzoug, ein Kioskbesitzer. Unweit seines Ladens im zentralen Viertel Tunis-Lafayette befinden sich zahlreiche Ministerien. „Doch die Beamten sitzen in ausgedehnten Pausen in Cafés, während vor ihren Augen der Müll auf den Straßen liegen bleibt. Der Präsident kämpft immer noch allein gegen eine in den Vorjahren aufgeblähte Bürokratie.“
Die steigenden Lebenshaltungskosten, der langsame Reformprozess und die nur langsam schwindende Korruption nagen aber an Saieds Popularität.
Gefahr aus dem Gefängnis?
Viele im Präsidentenpalast, der Führungsriege der Nationalgarde und der Polizei scheinen sich derzeit in einem Überlebenskampf gegen radikale Gruppen und die Ennahda-Partei zu wähnen: Der 84-jährige Anführer der mittlerweile verbotenen Ennahda, Rahed Ghannouchi, sitzt – wie die gesamte Führungsriege der Partei – wegen des Empfangs von Geldern aus dem Ausland und anderer Anklagepunkte hinter Gittern. Doch als soziale Bewegung ist Ennahda vor allem in Armenvierteln noch aktiv.
Ghannouchi und viele seiner Mitstreiter haben jüngst aus Solidarität mit dem Rechtsanwalt Jawahar Ben Mbarek einen Hungerstreik begonnen. Der seit 2023 im Gefängnis sitzende Chef der größten Oppositionspartei „Nationale Rettung“ war nach Angaben seiner Familie von Polizeibeamten am 11. November mit Gewalt dazu gezwungen worden, seinen eigenen Hungerstreik zu beenden. Ben Mbarek sitzt wegen des Versuchs einer Verschwörung zur Absetzung des Präsidenten ein. Seine Rechtsanwältin Hanen Khmirir klagt, ihr Mandant habe während der Haft Knochenbrüche und Schläge erlitten. All das sorgt für Aufmerksamkeit – nicht unbedingt positive für Saied.
Welche Demokratie, fragen wohl viele Tunesier
Die Pressefreiheit im Land ist schon länger merklich beeinträchtigt: Amnesty International und das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) fordern derzeit unter anderem die Freilassung der Rechtsanwältin Sonia Dahmani. Sie war mit ihren spitzzüngigen TV-Kommentaren landesweit bekannt geworden und wurde im Mai 2024 festgenommen. Ein Grund: Als Mitdiskutanten in einer Talkshow behaupteten, Migranten aus Subsahara-Afrika kämen nach nur nach Tunesien, um den Reichtum und die Schönheit des Landes zu rauben, erwiderte sie: „Welches Land meinen sie. Das, aus dem die eigene Jugend flieht?“ Ein Gericht verurteilte Dahmani daraufhin mithilfe des im Jahr 2022 eingeführten Paragrafen 54 zu einem Jahr Gefängnis. Die Begründung: Die Verbreitung von Falschmeldungen sei strafbar.
Doch anders als etwa 2011 bleibt die Empörung gegen das harte Vorgehen der Justiz weitgehend aus. Viele Tunesier haben offenbar ihren Glauben an die Demokratie in den letzten Jahren verloren.
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