Zirkusreihe „Play“ im Berliner Chamäleon: Der große Bruder Schwerkraft
Wie Artistik entsteht, ist auch eine Sache der Produktionsbedingungen. Das Chamäleon in Mitte arbeitet mit den Spielarten des zeitgenössischen Zirkus.
Das Jahr ist noch jung, die Kultur noch ein wenig im Winterschlaf. Im Chamäleon in den Hackeschen Höfen aber startet eine neue Reihe: „Play“ präsentiert die Vielfalt der Spielarten des zeitgenössischen Zirkus.
Ab 3. Januar zeigen zehn Compagnien und Einzelkünstler*innen aus Australien, Argentinien, Mexiko, den USA, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Irland und Deutschland Arbeiten, die Elemente von Jonglage, Körperakrobatik und Luftartistik, aber auch Clownerie, Performancekunst und Objekttheater miteinander verbinden. Sechs Wochen lang.
Wer Körperpyramiden baut, muss Nähe mögen. Eine gute Stunde lang stehen Alyssa Moore und ihre Kolleg*innen der australischen Zirkuscompagnie Gravity & Other Myths in der Show „A Simple Space“ auf- und übereinander. Sie schleudern sich in die Höhe, stehen Fuß auf Kopf, gelegentlich sogar Fuß auf Schädeldecke und bauen auf diese Art und Weise dreistöckige Menschenpyramiden.
„Am Ende der Show hast du 50 % eigenen Schweiß an dir, und 50 % ist der Schweiß der anderen. Das ist schon speziell“, sagt Moore der taz und lacht dabei fröhlich. „Danach gibt es ja eine schöne Dusche“, wirft Kollege Kevin Beverley ein.
Körperakrobatik ist Proletenjob
Wasser aus dem Duschkopf verdienen sich die acht Performer*innen jede Nacht redlich. Körperakrobatik ist der Proletenjob im Bewegungskunstbetrieb. Wer bei den Pyramiden unten steht, muss gegen die Schwerkraft von zwei anderen Körpern über ihm ankämpfen. Wer durch die Luft gewirbelt wird, muss sich darauf verlassen, dass die Hände der anderen sie am Ende der Luftfahrt noch an den Knöcheln zu packen bekommen.
Die Zirkusreihe „Play“ läuft vom 3. Januar bis 12. Februar 2023 im Chamäleon in Berlin-Mitte
„Das tut manchmal ordentlich weh“, gibt Moore zu. Missen möchte sie das alles aber nicht, weil eben auch das Fliegen dazu gehört. „Das ist fantastisch, für Momente die Schwerkraft nicht mehr zu spüren“, schwärmt sie.
„Schwerkraft und andere Mythen“ lautet der Name der Compagnie. Das bedeutet nicht, dass die Akrobat*innen die Schwerkraft leugnen. Aber ihr Spiel besteht darin, der Gravitation immer mal wieder zu trotzen. „Sie ist eine Herausforderung für uns. Es ist ein Spiel, in dem es für uns darum geht, herauszufinden, was wir in der Zeit, in der wir in der Luft sein können, alles anfangen können. Da geht es natürlich gegen die Schwerkraft“, sinniert Beverley – und kommt dann zu dem Schluss, dass die Schwerkraft auch ein großer Bruder sei, mit dem man herumspiele, dem man Zeit und Tricks abluchse.
Die Show „A Simple Space“, mit der die „Play“-Reihe eröffnet wird (3.-10. Januar), besteht aus vielen solcher Tricks. Eingebettet sind kleine Wettbewerbe der Performer*innen. Wer kann am weitesten springen? Wem geht am ehesten die Luft aus: Beim Atemanhalten oder beim Saltischlagen? Dieser Wechsel aus Höchstleistung und unverstelltem Spieltrieb ist prägnantestes Merkmal der Show.
Mit Humor, Selbstironie und aufblasbaren Plastikelementen
Humor und Selbstironie sind ohnehin Charakteristika der noch recht jungen Kunstform zeitgenössischer Zirkus. Der US-amerikanische Jongleur Wes Peden etwa überfordert sich in seiner Show „Rollercoaster“ (13.–15. Januar) permanent. Zwischen aufblasbaren Plastikelementen, die an Überreste einer Achterbahn erinnern, hält er Unmengen von Bällen, Keulen und Ringen in der Luft.
Die Kölner Compagnie Hippana.Maleta hat sich in „Runners“ (17.–19.Januar) das Jonglieren auf andere Weise erschwert. Die Performer stehen auf Laufbändern, die mal zuckeln, mal aber auch rasen.
Mit stereotypen Männerbildern im Umkleideraum operieren hingegen die famos durchtrainierten Akrobaten der argentinischen Compagnie Un Poyo Rojo, die Ende des Monats kommt. Ihr Stück kam schon 2010 heraus und gilt in der Szene als Kultperformance. Chamäleon-Chefin Anke Politz hat es schon lange auf ihrer Lieblingsliste. Ins Programm des Theaters passte es aber aus logistischen Gründen nicht hinein.
„Unsere Shows sind meist vier, fünf Monate hier, weil häufigere Umbauten für uns vor allem finanziell wegen der damit verbundenen Spielpausen nicht machbar sind“, erzählt Politz. Doch weil die Liste ihrer in Berlin deshalb nicht gespielten Lieblingsshows von Jahr zu Jahr immer länger wurde und weil auch die Spielbedingungen während der Pandemie ein Umdenken mit sich brachten, entstand das Programmfenster „Play“.
„Wir wollten mehr Vielfalt zeigen. Und dann führten die Hygieneauflagen im ersten Lockdown dazu, dass eigentlich niemand physisch ohne Maske auf der Bühne mit anderen arbeiten durfte oder nur Leute, die aus einem Haushalt kommen. Wir haben uns dann genau solche Stücke ausgesucht, vor allem Solostücke und Duette“, sagt Politz.
Nach mehreren Verschiebungen – auch Pandemie bedingt – eröffnet die Reihe nun endlich am 3. Januar. Sie soll perspektivisch zu einem wichtigen Baustein im Produktionszyklus des Chamäleon werden. Es profilierte sich in den letzten Jahren durch Koproduktionen und Auftragsarbeiten für Werke des Zeitgenössischen Zirkus. Räume zum Proben wurden zur Verfügung gestellt. Die Berliner Compagnie Raum 305 etwa erarbeitete ihre abstrakt-meditative Produktion „Wir wollen nie nie nie“ (20.-22.1.) zu wesentlichen Teilen im Chamäleon.
One Woman Show und Trapezkunst
Der Trapezkünstler Moritz Haase und der Puppenspieler Jarnoth steigen darin aus engen Kästen und erobern die horizontale Bühnenoberfläche, Haase schließlich auch die Vertikale am Trapez. Eine dialogische Spiegelebene führt Jarnoth mit einer Puppe ein, die wie eine kleinere Ausgabe der beiden Performer wirkt.
Auch eine frühe Arbeitsphase von „Julieta“ (3.–5. 2.) fand im Chamäleon statt. In dieser One Woman Show erzählt die Clownin Gabriela Muñoz – angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Großmutter – die Biografie einer sehr eigenwilligen alten Frau. Es handelt sich um eine nahe am Theater angesiedelte Arbeit in der „Play“-Reihe. „Julieta“ entstand – auch das ist eine Rarität in den Produktionsverhältnissen des zeitgenössischen Zirkus – im Rahmen einer Online-Konferenz.
„Wir hatten dort eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von etwa einem Dutzend Produktionshäusern zum Thema Auftragsarbeiten. Ein Kollege aus New York hatte damals noch Fördergelder übrig. Wir beschlossen, Künstler*innen anzusprechen, dass sie Konzepte einreichen. Wir haben ihnen den Weg der Idee vergütet. Für mich ist es wichtig, dass künstlerische Arbeit nicht erst im Moment der Aufführung vergütet wird“, sagt Politz. Muñoz reichte damals ein Konzept ein, entwickelte es weiter und probte längere Zeit im Chamäleon.
Den Probenbetrieb will Politz perspektivisch zu einem Residenzprogramm ausbauen. Auf der Plattform „Play“ können dann kleinere Arbeiten oder auch Zwischenergebnisse aus dem Residenzprogramm gezeigt werden. Die größeren Arbeiten kommen in den regulären Spielbetrieb für vier bis fünf Monate. „Play“ ist nicht nur wegen der Vielfalt der Positionen reizvoll. Die Reihe kann auch eine Schlüsselrolle in der weiteren Entwicklung des zeitgenössischen Zirkus hierzulande spielen.
International hat sich das Chamäleon längst einen Namen gemacht. „Vor fünf Jahren konnten wir nur träumen, mal am Chamäleon zu spielen. Jetzt sind wir schon mit der dritten Show dort, und fühlen uns einfach zu Hause“, sagte Jacob Randall, Mitgründer von Gravity & Other Myths. Für viele Berliner*innen ist das Chamäleon noch ein weitgehend unentdecktes Juwel. „Play“ bietet grandiose Gelegenheit zum Kennenlernen.
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