Zersplitterte Niederlande: Wahlsieg mit einem Fünftel der Sitze
Mit gerade mal 31 von 150 Sitzen ist der Rechtsliberale Rutte Wahlsieger. Der christdemokratische Premier Balkenende verlor jeden zweiten Sitz. Rechtspopulisten unter Wilders nun dritte Kraft.
DEN HAAG taz/dpa | In den Niederlanden könnte erstmals seit sehr langer Zeit wieder ein Liberaler die Regierung anführen. Nach Auszählung von 96,5 Prozent der Stimmen lag die VVD von Mark Rutte am Donnerstagmorgen mit 31 von insgesamt 150 Sitzen im künftigen Parlament ganz knapp vor den Sozialdemokraten (PvdA), die auf 30 Sitze kamen.
Verheerend fiel die Wahl für die die aktuelle Koalition anführenden Christdemokraten unter Premier Peter Balkenende aus. Er hatte bei der vergangenen Wahl wenigstens noch 41 Sitze gehabt und konnte sich halbwegs als Vorsitzender einer großen Partei fühlen. Doch er verlor nun jeden zweiten Sitz und legte daraufhin den Parteivorsitz nieder.
Insgesamt gibt es also keine Partei in Holland mehr, die mehr als gut ein Fünftel der Sitze auf sich vereinigen kann. Damit ist dort die Parteienlandschaft extrem zersplittert. Gibt es auf der Linken Grüne, Sozialisten und Sozialdemokraten genau wie hierzulande, hat sich diese Situation auch auf die rechte Seite übertragen, wo inzwischen Liberale, Christdemokraten und Rechtspopulisten um die Gunst der Wähler konkurrieren – und ähnlich groß sind. Selbst liberale Parteien gibt es zwei. (Siehe auch Kasten.)
Drittstärkste Kraft ist der Rechtspopulist Geert Wilders, der es mit seiner Partei für die Freiheit (PVV) auf 24 Sitze (2006: 9 Sitze) brachte und bereits Anspruch auf Beteiligung an der künftigen Regierung erhoben hat.
Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk NOS, sieht Wilders als den "großen Gewinner". Der Rechtspopulist hatte unter anderem einen Einwanderungsstopp für Muslime und die Kürzung der Sozialhilfe für neue Immigranten gefordert. Noch in der Nacht bekräftigte er seine Forderung nach Beteiligung an der nächsten Regierung. "Wir wollen regieren", sagte er.
Mandatsverteilung im 150 Sitze umfassenden Parlament, der "Tweede Kamer der Staten-Generaal" (im Vergleich zum Wahlergebnis 2006):
Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) 31 (+ 9)
(konservativ-liberal)
Partei der Arbeit (PvdA) 30 (- 3)
(Sozialdemokraten)
Partei für die Freiheit (PVV) 24 (+ 15)
(rechtspopulistisch, anti-islamisch)
Christlich-Demokratischer Appell (CDA) 21 (- 20)
(Christdemokraten)
Sozialistische Partei (SP) 15 (- 10)
(Sozialisten)
Grün-Links (GL) 10 (+ 3)
(Grüne)
Demokraten 66 (D66) 10 (+ 7)
(linksliberal)
Christen-Union (CU) 5 (- 1)
(orthodox-protestantisch, christlich-sozial)
Politisch reformierte Partei (SGP) 2 (+/- 0)
(orthodox-calvinistisch, radikalkonservativ)
Partei für die Tiere 2 (+/- 0)
(Tierschützer)
Es wäre "nicht demokratisch", so Wilders, wenn die anderen Parteien bei der Regierungsbildung an der Tatsache vorbeigehen würden, dass seine PVV von rund 1,5 Millionen Niederländern gewählt worden sei. Wilders strebt nach eigenen Worten eine Koalition mit der rechtsliberalen VVD und den Christdemokraten an. Als möglicher weiterer Koalitionspartner käme die kleine orthodox-calvinistische Partei SGD (2 Sitze) in Betracht.
PvdA-Spitzenkandidat Job Cohen gratulierte Wilders. "Wir haben den gewaltigen Zuwachs der PVV zu respektieren", sagte er. Auch VVD-Chef Mark Rutte gratulierte Wilders und nannte das Ergebnis seiner eigenen Partei "prachtvoll".
Balkenendes kommentierte den Ansturz seiner Christdemokraten (CDA) von 41 auf 21 mit den Worten, das sei "sehr, sehr enttäuschend". Er übernahm dafür die Verantwortung und legte den Parteivorsitz nieder. Er werde auch kein Mandat im Parlament anstreben, sagte er. Balkenende bleibt noch als Ministerpräsident im Amt, bis eine neue Regierung gebildet worden ist.
Zu den Wahlgewinnern gehörten auch die Grün-Linken, die nach dem Zwischenergebnis auf 10 Mandate kommen (vorher 7). Die linksliberale Partei Demokraten 66 steigerte sich von 3 auf 10 Mandate. Die Sozialistische Partei sackte auf 15 Mandate ab (vorher 25). Die Wahl war die erste in einem Land der Euro-Zone nach dem Ausbruch der Schuldenkrise und galt daher auch als Stimmungstest in Europa. Das inoffizielle Endergebnis wird erst im Laufe des Donnerstags erwartet.
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