Politologe über IS-Rückkehrerin: „Ein wichtiges Signal“

Im Prozess gegen Jennifer W. ging es um mehr als den Mord an einer Fünfjährigen, sagt der Politologe Thomas Mücke. Es ging um Völkermord.

Jesidische Familie mit ihren Kindern - im Hintergrund viele Menschen die in der Hitze unterwegs sind

Jessiden flüchten 2014 vor dem IS aus dem Sinjar Gebirge, nicht allen gelingt die Flucht Foto: Rodi Said/reuters

taz: Herr Mücke, ist das Urteil gegen Jennifer W. zu zehn Jahren Freiheitsstrafe angemessen?

Thomas Mücke: Die Höhe des Strafmaßes ist gar nicht so entscheidend.

Warum nicht?

Viel wichtiger ist, dass das Verbrechen von einem deutschen Gericht offiziell als Kriegsverbrechen eingestuft wurde. Das ist ein wichtiges Signal: Wer sich an solchen menschenverachtenden Taten beteiligt – egal an welchem Ort in der Welt –, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.

Bei dem Prozess ging es um mehr als ein Einzelschicksal: Es war der weltweit erste Prozess im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesiden im Nord­irak. Wie wichtig war dieser Prozess für die jesidische Community?

Sehr wichtig. Die jesidische Bevölkerung leidet seit Jahrhunderten darunter, dass die an ihnen begangenen Verbrechen straflos bleiben. Das darf und soll mit den Verbrechen im Nordirak nicht geschehen. Konkret bedeutet das Urteil also auch: Deutschland wird die Verbrechen gegen Jesiden und Jesidinnen nicht ignorieren und erkennt die eigene Verantwortung an. Völlig zu Recht, schließlich haben sich tausend Deutsche dem IS angeschlossen und diese Verbrechen begangen. Es liegt in unserer moralischen Verantwortung, das aufzuarbeiten.

Thomas Mücke, geboren 1958, ist Diplom-Pädagoge, Diplom-Politologe und Mitbegründer des Violence Prevention Network, das mit radikalisierten Jugendlichen arbeitet.

Trotzdem erkennen viele Länder und Institutionen wie Belgien und das EU-Parlament den Völkermord als solchen an, Deutschland hingegen nicht.

Es ist ein langer und mühsamer Prozess, einen Völkermord zu beweisen. Zumal es kaum schriftliche ­Dokumente oder verwertbares Bildmaterial gibt und sich die Gerichte überwiegend auf Zeugenaussagen verlassen müssen. Auch im Prozess gegen Jennifer W. war es für die ­Staatsanwaltschaft sehr schwierig.

Hat der Prozess etwas angestoßen?

Definitiv. Vor allem hat er das Bild der Täterschaft verändert. Jetzt gilt: Wer zugesehen hat, war auch daran beteiligt. Und man sollte natürlich auch nicht vergessen, dass diese Rückkehrerinnen wichtige Zeuginnen sind.

Bislang wurde die Rolle von Frauen im IS eher unterschätzt. Sie waren demnach Opfer und den Männern hörig. Das behauptete auch Jennifer W. von sich. Ändert sich mit dem Urteil, wie Frauen des IS zur Verantwortung gezogen werden?

Nicht ganz, eigentlich wurde schon immer differenziert. Bloß häuft sich aktuell die Zahl der Rückkehrerinnen aus dem IS. Anders als die Männer konnten Frauen nämlich trotz möglicher Zweifel den IS nicht einfach so verlassen. Das ging erst nach dem Zusammenbruch Ende 2017. Jetzt kommen natürlich viele Frauen zurück und behaupten, sie seien auch nur Opfer gewesen. Frauen, die aufgrund ihres mangelnden Selbstbewusstseins in den IS gegangen sind und in den Gefangenenlagern malträtiert wurden. Aber natürlich sind das nicht alle Opfer: Es gibt auch die hochgradig fatalistischen und passiven Frauen, die sehr schnell wussten, welche Verbrechen da passieren, sich aber trotzdem anpassten. Und es gibt die Täterinnen: alle die, die noch einen gewissen Gestaltungsspielraum hatten und selbstbestimmt agieren konnten.

Was können Länder wie Deutschland noch tun, um den jesidischen Opfern Gehör zu verschaffen?

Schneller reagieren und präventiv handeln. Alle europäischen Länder müssen sich die Frage stellen, wie sie künftig vermeiden können, dass so ein Terrorsystem entsteht. Wir brauchen schon jetzt Strategien, um die nächste Ausreisewelle an Tätern und Täterinnen zu verhindern.

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