Zahlendeuterei von Parteichef-Wahlen: Ein Journalist darf nie zufrieden sein
Schulz wurde mit 100 Prozent der Stimmen gewählt – das „riecht nach Nordkorea“. 80 Prozent gelten dafür als „Abstrafung“. Ja, wie denn nun?
Martin Schulz ist der erste. Also nicht nur der allererste SPD-Vorsitzende aus Würselen, was ja an sich schon fantastisch genug wäre, sondern auch der erste Kandidat, der mit sage und schreibe hundert Komma null Prozent zum Parteichef gekürt wurde. Beim SPD-Sonderparteitag in Berlin erhielt er 605 von 605 abgegebenen gültigen Stimmen.
Das ist ein Novum in der 154-jährigen Geschichte der SPD, die doch schon so vieles erlebt hat: Sozialistengesetz, Verrat, Verbot und neoliberale Sozialreformen. Natürlich machen sich die Genossen nun Hoffnung auf den Sieg über Angela Merkel bei der Wahl im kommenden Herbst. Seit Gerhard Schröder, dem Vater jener Reformen, schnupperte nie wieder ein Kanzlerkandidat der SPD auch nur von weitem an dem nach dem Bundestrainer wichtigsten Amt im Staat. Aber gewiss hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.
Das Ergebnis sei „das große Verdienst Sigmar Gabriels“, lobt die Frankfurter Allgemeine Zeitung hämisch Schulz’ Amtsvorgänger an der Parteispitze und deutet damit unverfroren an, dass erst dessen Unbeliebtheit dem Würselener einen roten Teppich zum Erdrutschsieg ausrollte – die Stairway to Heaven errichtet auf des Niedersachsen Schande.
Die FAZ ist längst nicht das einzige Blatt, das nach Haaren in der Suppe dieses einmaligen Ergebnisses sucht. Von einem „realsozialistischen Wahlergebnis“ unkt denn auch die einschlägig erfahrene Sächsische Zeitung, die von so viel Zustimmung selbst bloß träumen kann. Die Begeisterung über einen Mann, der bislang in erster Linie Vorschusslorbeeren erntet, ist ihr verdächtig. Das riecht doch alles verdammt nach Nordkorea. „Schulz hätte auch über das Wetter schwadronieren können“, nölt wiederum die Landeszeitung aus Lüneburg.
Ein Warnschuss, ein Denkzettel, ein Signal
Doch andersherum ist es der Presse ja auch nicht recht. Sobald bei irgendeinem Parteitag einer beliebigen Partei der designierte Vorsitzende auch nur um die 80 Prozent bekommt, ist dann stets reflexartig von „Denkzetteln“ die Rede, die der jeweilige Kandidat „verpasst bekommen“ habe. Ein „Warnschuss vor den Bug zur rechten Zeit“, eine „Abstrafung durch die Delegierten“, ein „Signal der Unzufriedenen“ – das sind nur einige der erprobten Textbausteine, die, um die Deadline einzuhalten, so gut wie jedes Mal zum Einsatz kommen.
Sind die denn also nie zufrieden? Und welcher Prozentsatz wäre der Journaille denn nun bitteschön unverdächtig, passend, kurz: genehm? Damals in der Axel-Springer-Journalistenschule lernten wir: Ein Journalist gibt sich nie zufrieden, auf keinen Fall, niemals, mit nichts. Wer diesen Grundsatz vergaß, musste ihn hundertmal in Schönschrift schreiben, beim zweiten Mal gab es den Stock, und wer ihn ein drittes Mal vergaß, wurde achtkantig rausgeschmissen. Wie gut, dass ich das Institut gar nicht besuchte, so ersparte ich mir diese Schmach.
Der SPD-Vorsitzende mit dem bis dato besten Resultat, Kurt Schumacher, erreichte 1948 99,71 Prozent, aber gut, damals lebten ja auch nicht mehr viele. Bevölkerungsinflationsbereinigt wären das für Schulz umgerechnet 120 Prozent gewesen. Kein Wunder also, dass die wundersame Wandlung des Würseleners vom Messi zum Messias die vierte Gewalt mit Argwohn erfüllt. Denn, apropos Messias: Noch nicht einmal Jesus hatte 100 Prozent bekommen. Judas war kein Jasager, keine Blockflöte wie die anderen Apostel. Würde nun wahrscheinlich die Sächsische Zeitung denken.
Doch es wäre nicht unsere Welt, ginge es nicht auch noch besser: Chuck Norris bekommt auf dem Parteitag der Piraten 100 Prozent, obwohl er gar nicht da ist. Da muss selbst einer wie Martin Schulz erst mal hinkommen.
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