Zahlen zur sexuellen Gewalt: Die Sache mit der Statistik
Hunderte? Tausende? Oder doch einfach nur viele? Wie gut lässt sich sexuelle Gewalt in Zahlen fassen? Ein Faktencheck.
Man könnte auch schreiben: viele. Viele Frauen werden belästigt, viele vergewaltigt. Doch „viele“ reicht nicht. Nicht um Diskussionen vorwärts zu bewegen, nicht um Gesetze zu verändern, nicht um ein klares Bild davon zu bekommen, was in unserer Gesellschaft passiert.
Darum versucht man es mit Zahlen. Mit Statistiken, Schätzungen, Prozenten.
Vor mehr als sechs Jahren habe ich einen Artikel geschrieben, in dem zwei solcher Zahlen stehen. Es ging um die sexuellen Übergriffe während des Münchner Oktoberfestes. Dort stand: „Rund 10 Vergewaltigungen pro Oktoberfest gehen in die Statistik ein – die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt.“
In den vergangenen Wochen wurde dieser Artikel wieder aus der virtuellen Schublade gezogen, vor allem wohl als Zeugnis dafür, dass nicht nur Marokkaner in Köln, sondern auch Bayern und Touristen Frauen belästigen. Wie sinnvoll solche Vergleiche sind, ist eine andere Frage. Hier soll untersucht werden, ob die Zahlen richtig sind, ob sie richtig sein können – und ob solche Bezifferungen überhaupt taugen.
Los geht’s.
Um Vergewaltigungen zu zählen, muss man zunächst klären, was Vergewaltigungen sind. Zwei Menschen haben eine Form von Geschlechtsverkehr, einer von ihnen will das nicht? So logisch ist das in Deutschland nicht geregelt.
Justizminister Heiko Maas plant gerade eine Reform des Sexualstrafrechts. Momentan ist laut Paragraf 177 des Strafgesetzbuchs Vergewaltigung ein besonders schwerer Fall sexueller Nötigung. Für sexuelle Nötigung braucht es: Gewalt oder eine Drohung, von der Gefahr für Leib und Leben ausgeht. Alternativ: der/die Überfallene ist dem Peiniger schutzlos ausgeliefert. Nein zu sagen, reicht nicht. Für den Tatbestand der Vergewaltigung sind Beischlaf oder ähnliche sexuelle Handlungen, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind, Voraussetzung. Außerdem: „besondere Erniedrigung“. Wo die Grenze dafür liegt, bleibt Ermessenssache der Richter.
Schon was als Vergewaltigung gilt, ist also nicht eindeutig.
Bevor ein Fall jedoch vor Gericht landet, muss Anzeige erstattet werden. Die Beamten vernehmen Zeugen, lassen die Frauen untersuchen, durchforsten Vorstrafenregister. Erst wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, geht die Zahl in die Kriminalstatistik ein, erklären die Zuständigen der Münchner Polizei in einer E-Mail.
Was sagt die Polizeistatistik?
Veröffentlicht die Polizei München etwa eine Zahl von 147 Vergewaltigungen im Jahr 2014, sind das nicht jene, die in dem Jahr verübt worden sein sollen, sondern jene, zu denen die Ermittlungen in diesem Jahr abgeschlossen wurden. Für das Jahr 2014 stammen von den 147 Vergewaltigungen in der Statistik 81 aus den Jahren davor.
Bei den Zahlen zum Oktoberfest ist es wieder anders. In den Wiesn-Reporten, den vorläufigen Abschlussberichten zur Sicherheitslage auf dem Oktoberfest, die uns seit dem Jahr 2005 in gedruckter Form vorliegen, wird grundsätzlich nur von den bis zur Veröffentlichung angezeigten Fällen gesprochen. In der Regel gibt die Polizei die Reporte am letzten Oktoberfesttag heraus.
Im Jahr 2015 ist dort von einer versuchten Vergewaltigung die Rede, 2014 von zwei Vergewaltigungen, 2013 ebenso, 2012 von vier.
Der Text: Im September 2009 erschien in der taz der Artikel „O‘grapscht is“ zu sexueller Gewalt beim Oktoberfest. Ohne Nennung der Quelle stand darin: „[…] darüber gibt es nur Schätzungen. Rund 10 Vergewaltigungen pro Oktoberfest gehen in die Statistik ein – die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt [...].“
Die Debatte: Nach der Kölner Silvesternacht werden die Zahlen mehrfach genannt und diskutiert – im Internet, aber auch in einem Interview im ARD-Morgenmagazin. Der FAZ-Artikel „Lügenzahl vom Oktoberfest“ zitiert einen Polizeisprecher, der sie definitiv falsch nennt. Der taz-Text wird etwa 30.000 Mal geklickt.
Diese Zahlen beziehen sich nur auf das Festgelände, erklärt Werner Kraus von der Münchener Polizei. Also die 34,5 Hektar der für das Fest genutzten Fläche der Theresienwiese.
Nicht Teil der Statistiken sind demnach: Jene Frauen, die erst nach dem Erscheinen der Reporte so eine Tat anzeigen, und die, die auf dem Heimweg angegriffen werden.
In den früheren Jahren, auch in denen vor dem taz-Artikel, wurden in den Wiesn-Reporten auch Vergewaltigungen angegeben, die sich auf den Bereich um das Festgelände oder den Heimweg beziehen. Im Jahr 2006 sind vier Vergewaltigungen aufgeführt und zusätzlich sechs mit Wiesn-Bezug, 2007 sechs auf dem Oktoberfest und drei auf dem Nachhauseweg. Jeweils geht es nur um Anzeigen bis zum Ende des Festes.
Wie also erfährt man nun, wie viele Übergriffe es aufgrund des Oktoberfests – pro Oktoberfest – tatsächlich gab?
Die Kriminalstatistiker der Polizei München überließen uns eine Tabelle mit allen Zahlen über Anzeigen zu Vergewaltigung und sexueller Nötigung, deren Ermittlungen sie 2010 bis 2014 abgeschlossen hatten. Die Daten sind genauer und enthalten den jeweiligen Tatzeitpunkt.
Die Waschmaschine hat die Welt verändert – mehr als das Internet, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Chang Ha-joon. Hat er Recht? Über unterschätzte Technik lesen Sie in der Titelgeschichte „Technik, die begeistert“ in der taz.am wochenende vom 30./31. Januar. Außerdem: Die Diagnose „Unheilbar krank“. Was erwarten wir vom Leben, wenn es endet? Und: Deutschland erwägt seine Grenzen zu schließen. Ein Szenario über die Folgen. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Bleiben wir bei Vergewaltigungen. Das Jahr 2014 fällt als Berechnungsgrundlage aus, weil wohl noch viele Anzeigen hinzukommen werden. Die Statistik für 2015 gibt es noch nicht.
Nach Tatzeitpunkt ergeben sich für das Jahr 2013 wegen Vergewaltigung bisher 121 Anzeigen mit abgeschlossenen Ermittlungen. Also durchschnittlich 0,33 Vergewaltigungen in der Stadt München pro Tag. Über einen Zeitraum von 16 Tagen – so lange dauerte 2013 das Oktoberfest – wären also 5,3 Vergewaltigungen normal. Tatsächlich waren es im Zeitraum vom 21. September bis zum 6. Oktober 2013 aber 16 Fälle. Das sind rund 10,7 über der statistischen Norm.
In den anderen Jahren ergibt sich ein ähnliches Bild. Für das Jahr 2012 wären 6,56 Vergewaltigungen für 16 Oktoberfesttage statistisch normal. Tatsächlich waren es 16. Im Jahr 2011: 12 statt 6,61. 2010: 19 statt 8,24. Für die Jahre zuvor stehen uns die Zahlen leider nicht zur Verfügung.
„Das ist nun nicht mehr mit Zufall erklärbar“, sagt Walter Krämer, Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund, der auf die Berechnungen sah. Als Statistiker sagt er: Die Zahlen sind signifikant erhöht. Die Schwankungen in der Zeit des Oktoberfests hält er für beeindruckend. Eindeutig ein Effekt des Oktoberfests, sagt er.
Grobe Schätzungen
„Was aber der genaue Grund für den Anstieg ist, steht in der Statistik nicht“, sagt Krämer. Das Oktoberfest hat jedes Jahr mehr als 6 Millionen Besucher, in München leben nicht einmal eineinhalb Millionen Menschen. Die Anzahl der Delikte, sagt Krämer, hängt auch mit der Anzahl der Möglichkeiten zusammen. Vielleicht liegt es also schlicht an den vielen Menschen, vielleicht wird dieser Effekt zusätzlich durch Alkohol und enthemmtes Verhalten beeinflusst.
Ohnehin beziehen sich diese Zahlen wie gesagt nur auf die Anzeigen. Das bedeutet: Es ist nicht gerichtlich entschieden, dass in jedem Fall eine Vergewaltigung stattgefunden hat. Es bedeutet aber auch: Es gab noch viel mehr Vergewaltigungen – denn nicht jede Frau, die vergewaltigt wird, zeigt dies an.
Dazu gibt die repräsentative Studie von 2004 zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des Familienministeriums relativ gute Auskunft. Hier befragten Wissenschaftlerinnen mehr als 10.000 Frauen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren zu Gewalterfahrungen.
Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle, mittlerweile an der TU Dortmund, leitete die Studie. Es kam heraus: Von den 1.177 Frauen, die angaben, schon einmal sexuelle Gewalt erlebt zu haben, erstatteten fünf Prozent Anzeige. Mit sexueller Gewalt fragten die Forscher erzwungene sexuelle Handlungen von strafrechtlicher Relevanz ab.
Nähme man nun die eingegangenen Anzeigen in der Stadt München als jene fünf Prozent an und schriebe man die zusätzlichen 10,7 Vergewaltigungen aus dem Jahr 2013 dem Oktoberfest zu, dann ergäbe das eine Schätzung von etwa 200 Vergewaltigungen während der Zeit des Oktoberfestes für das Jahr 2013. Aber genau das meint das Wort Dunkelziffer: Die wahre Ziffer bleibt in Dunkeln.
„Solche Zahlen können natürlich nur eine grobe Schätzung sein“, sagt Monika Schröttle. Die Größenordnung hält sie für plausibel, für exakte Angaben seien aber die Einflüsse zu komplex. Trauen sich beim Oktoberfest mehr oder weniger Frauen, Anzeige zu erstatten? Frauen zeigen eine Tat häufiger an, wenn es sich um Fremdtäter handelt, sagt Schröttle. Kommt das bei den Wiesn-Fällen nun häufiger vor – oder sind die Vergewaltiger Bekannte, mit denen die Frauen unterwegs sind? Betrunkene Frauen wiederum würden schneller die Schuld bei sich suchen und auf eine Anzeige verzichten.
Weitere Fragen ergeben sich aus der Erhebung der Daten, die zu den fünf Prozent führen. Was erzählen die Frauen in solchen Befragungen, was eher nicht? Es ist also so: Statistiken bergen immer ein enormes Potenzial an Fehlern.
Aus Zahlen lernen
Und doch können sie auch helfen. Bei genauer Betrachtung fällt zum Beispiel auf: 2011 lief es etwas besser. 2013 lag die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen für die Wiesn-Zeit um 10,7 über der Jahresnorm – im Jahr 2011 um 5,39 darüber.
Wahrscheinlich ist das nur eine zufällige Schwankung. Dennoch liegt vielleicht genau hier der Punkt: Sollte man nicht auf die Jahre sehen, die Feste, Länder, Straßenzüge, in denen es besser läuft? Und genau analysieren: Was läuft hier anders? Gibt es funktionierende Sicherheitskonzepte, Anlaufstellen? Gibt es mehr Fachkräfte, werden die Beamten anders geschult, die Besucher besser auf Gefahren hingewiesen?
Kriminalhauptkommissar Werner Kraus kann sich an keine besonderen Veränderungen im Jahr 2011 erinnern. „Könnten wir das an etwas Bestimmtem festmachen, wäre das natürlich toll“, sagt er, „dann würden wir das ausbauen.“
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