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ZDFneo Serie „Chabos“Mitten ins Millennial-Gedächtnis

Zwischen Trash-Nostalgie und Erinnerungsschmerz: Mit „Chabos“ gelingt dem ZDF eine präzise Serie über das Erwachsenwerden im Deutschland der 2000er.

Peppi (Nico Marischka, r.), PD (Jonathan Kriener, l.), Alba (Loran Alhasan, 2.v.r.), Gollum (Arsseni Bultmann, 2.v.l.) in „Chabos“ Foto: Nikolaus Schreiber

Roh, schonungslos ehrlich und direkt: So geben sich viele „Coming of Age“-Serien spätestens seit dem Überraschungserfolg der britischen TV-Produktion „Skins“, die ab 2007 den Ton für eine neue Generation von Jugenddramen setzte.

Doch was seither als radikaler Zugriff auf das wahre Lebensgefühl von Heranwachsenden verkauft wird, ist oft kaum mehr als ein kluger Kniff, um Dringlichkeit zu suggerieren – und explizite Bilder zu legitimieren. Nicht selten für ein Publikum, das längst nicht mehr zur dargestellten Altersgruppe gehört.

Das wohl prominenteste Beispiel, das nach dieser Logik funktioniert, ist „Euphoria“, Sam Levinsons hochstilisierte Skandalserie, die für ihren freien Umgang mit Sexualität und Sucht, mit Identitätsfragen und familiären Traumata gleichermaßen zelebriert wie kritisiert wird. Wie ungebrochen die Faszination für „grenzüberschreitende“ Jugenddramen ist, zeigt nicht zuletzt, dass mit „Euphorie“ bald ein deutscher Ableger auf RTL+ startet.

Umso bemerkenswerter wirkt daneben die neue Serie „Chabos“, produziert von BBC Studios Germany für das ZDF. Auch hier fielen Schlagworte wie „ungeschönt“, um die Erzählung um Peppi (Johannes Kienast) zu bewerben – einem 36-Jährigen, der von einem Klassentreffen erfährt und überstürzt in seine Duisburger Heimat zurückkehrt, um herauszufinden, warum er nicht eingeladen wurde.

Ein bestechend genaues Porträt der frühen 2000er

Auf der Suche nach der Person, die ihn von der Gästeliste gestrichen hat, taucht Peppi in Erinnerungen an sein 16-jähriges Ich (Nico Marischka) ein. „Chabos“, geschrieben und inszeniert von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch, erzählt auf zwei Zeitebenen, eine davon führt in den Sommer 2006 zurück, in prägende Wochen für den Protagonisten und seine Freunde: Ein illegaler Download von „Saw 2“ zieht eine Abmahnung wegen Urheberrechtsverletzung nach sich.

Die Eltern einzuweihen, ist für Peppi keine Option: Vater Bernd (Peter Schneider) hat seinen Job verloren, und die Ehe mit Mutter Martina (Anke Engelke) droht unter der Last ständiger Geldsorgen zu zerbrechen. Also greifen die vier Jungs zu immer drastischeren Mitteln, um die Summe aufzutreiben. Khaet und Paatzsch dient dies aber nur als spannender Rahmen, um ein bestechend genaues Porträt der frühen 2000er in Deutschland zu entwerfen, aus Sicht der Generation der „Millennials“.

Von ICQ am Familien-PC, über Sonnenbank-Flatrates und Wodka-Bull, bis zu einem Soundtrack zwischen Eko Fresh, Silbermond und Tokio Hotel: Das Gespür für eine authentische Atmosphäre, mit dem „Chabos“ das Aufwachsen zu dieser Zeit nachzeichnet, ist beeindruckend. Das Kaleidoskop dieser Erfahrungswelt erschöpft sich zwar nicht in popkulturellen Verweisen, wird aber durchaus mit ihren düsteren Aspekten in Verbindung gebracht.

Etwa dem Sexismus einer Zeit, in der „schwul“ noch eine Beleidigung war, „Deine Mutter“-Witze ein Ausdruck von pubertärem Zynismus und misogyne Kommentare aus TV-Formaten wie „DSDS“ kaum als solche kritisiert wurden.

Zwischen „Arschficksong“ und Assi Toni

Mindestens genauso intensiv erzählen Khaet und Paatzsch von alltäglicher Ausgrenzung anderer Art, der rassistischen Türpolitik in der Disco oder diskriminierenden Fremdzuschreibungen. Peppis Freund Phillip (Jonathan Kriener) etwa trägt den Spitznamen „PD“, kurz für „Polendeutscher“ – während „Alba“ (Loran Alhasan) nur so genannt wird, weil er fälschlicherweise für einen Albaner gehalten wird.

Was es bedeutete, als Junge zwischen Sidos „Arschficksong“ und Youtube-Phänomenen wie Assi Toni sozialisiert zu werden, rückt dabei besonders in den Fokus. Peppi, der das Geschehen mit kritisch-nostalgischem Blick aus dem Heute kommentiert, bringt es auf den Punkt: Nicht die deutsche Fußball-WM, sondern die Gründung von „YouPorn“ sei das Ereignis des Jahres gewesen. „Aber hat es uns geschadet?“, fügt er noch lakonisch hinzu.

Durch solch schmerzlich-treffende Pointen und dem Dialog mit dem Publikum wird „Chabos“ tatsächlich zu einer rohen, schonungslos ehrlichen und direkten „Coming of Age“-Erzählung. Statt abseitige Exzesse zu zeigen, setzt die Serie zur Selbstbefragung einer Generation an, deren Identitätsbilder zwischen medial geprägten Rollenklischees und subtilen wie offenen Formen des Alltagsrassismus oszillierten.

Mehr noch: Sie zeichnet dieses Echo aus dem Gestern als Nährboden für die Gegenwart, und zieht damit eine direkte Linie in unser Jetzt, zu AfD-Rhetorik, Ausländerfeindlichkeit und Männlichkeitsbildern, die eben längst nicht überwunden sind – sondern nur neue und digital verstärkte Formen angenommen haben.

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