: Wutrede für Europa
Geradeheraus Asselborn bringt Ungarns Rausschmiss aus der EU ins Spiel. Spitzenpolitiker distanzieren sich von seinen Aussagen
Aus Brüssel Eric Bonse
War es ein unkontrollierter Wutanfall? Oder gezielte Provokation am Tag vor der groß angekündigten Rede zur „Lage der Union“, die Kommissionschef Jean-Claude Juncker am Mittwoch in Straßburg hält? Fest steht, Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat die fein ziselierte Tagesordnung der EU kräftig durcheinandergebracht.
Der Sozialdemokrat aus Luxemburg hat sich über alle Denkverbote hinweggesetzt und den Rauswurf Ungarns ins Spiel gebracht. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der Welt.
Das kam unerwartet. Schließlich war es ruhig geworden um das Land, das von Viktor Orbán zum Schutzwall der Schengen-Zone gegen Flüchtlinge ausgebaut wird. Seit Angela Merkel vor einem Jahr die Grenzen für Flüchtlinge aus Budapest öffnete, hatte sich ein unausgesprochener Konsens gebildet: Was Orbán macht, ist nicht schön, hilft aber gegen die Krise.
Vor allem die Osteuropäer, aber auch Österreich und sogar die bayerische CSU gaben Orbán Rückendeckung beim Bau der neuen Mauer durch Südosteuropa. Und nun das: „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge“, schimpft Asselborn. „Hier werden Menschen, die vor dem Krieg fliehen, fast schlimmer behandelt als wilde Tiere.“
Nachdem sich die Europaabgeordneten vom ersten Schock erholt hatten, reagierten sie empört, und zwar auch im Orbán-kritischen linken Lager. „Es hilft nichts zu sagen, wir schmeißen Ungarn raus“, sagte Rebecca Harms, die Fraktionsvorsitzende der Grünen. „Mit beleidigten Reaktionen kommen wir nicht weiter“, betonte Gabi Zimmer von der Linken.
Natürlich sei der Mauerbau ein „riesiges Problem“, so Harms. Aber mit Zwang werde man bei Orbán nichts erreichen. „Die richtige Antwort ist die gemeinsame Verantwortung für ein rechtsstaatliches Grenz-Management“, fordert die Grünen-Politikerin. „Bisher werden noch nicht einmal die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft“, klagt Zimmer.
Tatsächlich weigert sich der Ministerrat seit Jahren beharrlich, gegen die ungarischen Verstöße gegen EU-Recht vorzugehen. Ein Ausschlussverfahren gilt als völlig chancenlos. Denn dem müssten alle anderen 27 EU-Staaten zustimmen – ein einziges Veto, etwa aus dem rechtskonservativ regierten Polen, reicht, um Ungarn vor dem Rauswurf zu retten.
Zudem steckt der EU noch der Brexit-Schock in den Knochen. Nach dem britischen Nein zu Europa möchte der Club nicht noch weitere Mitglieder verlieren. Entsprechend negativ fielen die Reaktionen in den Hauptstädten der Union aus. Nicht nur Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier – ein guter Freund Asselborns – distanzierte sich von der „nicht abgestimmten Haltung“.
Auch der lettische Außenminister Edgars Rinkēvičs protestierte: „Diese Politik im Megafon-Stil hilft nicht“, sagte er. Und Österreich verteidigte den schwierigen Nachbarn: „Die Ungarn machen eine vernünftige Aufgabe, weil sie sichern die Schengen-Außengrenze“, sagte Außenstaatssekretär Harald Mahrer in Wien.
Hat Asselborn also nur eine „unsinnige Gespensterdiskussion“ losgetreten, wie Manfred Weber, Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, behauptet? Nicht ganz. Denn zum einen macht man sich auch in Brüssel und Straßburg Sorgen um Orbán. Schließlich baut der nicht nur seine Grenze massiv aus. Am 2. Oktober will er sich in einem Referendum zudem Rückendeckung für seinen Kampf gegen die EU-Flüchtlingspolitik sichern. Damit holt er zum womöglich entscheidenden Schlag gegen die – ohnehin stockende – Umverteilung der Migranten aus.
Zum anderen legt Asselborn den Finger in die Wunde: „Die EU kann scheitern“, sagte er in seinem skandalumwitterten Interview. „Typen wie Orbán“ hätten der EU eingebrockt, dass sie nun so dastehe, als könne sie ihre eigenen Werte nicht mehr verteidigen. Offenbar geht es ihm neben Ungarn auch um Polen oder den Beitrittskandidaten Türkei.
Wird Kommissionschef Juncker seine Rede am Mittwoch nutzen, um gemeinsame Werte zu beschwören – und durchzusetzen? Asselborn hat immerhin erreicht, dass diese Fragen wieder diskutiert werden.
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