Wolfgang Seibert vor Gericht: Griff in die Gemeindekasse
Der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg wurde wegen Untreue verurteilt. Seine jüdische Biografie hatte er erfunden.
Nach seinem Geständnis verurteilte ihn das Gericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung. Zusätzlich trägt er die Verfahrenskosten – und ihm droht eine Zivilklage der Gemeinde, die vor der Auflösung steht. Für seine Amtsnachfolgerin bedeutet das Verfahren einen Schlussstrich unter dem „großen Durcheinander“, das nach dem Bekanntwerden von Seiberts gefälschter Biografie entstand.
Im Aktenschrank standen lauter leere Ordner, Unterlagen der Gemeinde tauchten später in einem Keller wieder auf – und es ist „im Lauf der Zeit immer schlimmer geworden“, berichtete Sabine B., die nach Seiberts Abgang den Vorsitz der Gemeinde übernahm. Nicht nur verwendete Seibert mehrere Konten, vor allem waren die Mitgliederzahlen wohl deutlich zu hoch angesetzt – das ist bedeutsam, denn pro Mitglied fließt Geld aus Landesmitteln. Rund 250 Personen hatte die Gemeinde gemeldet, vermutlich seien es nur 45 echte Mitglieder gewesen, sagte B. Über diese Differenz gab es später Streit mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden.
Doch um dieses Geld ging es vor Gericht nicht, sondern um 173 kleinere und größere Abhebungen und Überweisungen. „Mir wurde gesagt: Herr Seibert kann keinen Kaugummi kaufen, ohne mit Jüdische Gemeinde zu unterschreiben, das wisse ganz Pinneberg“, berichtete B. Wie lange das so ging, darf das Gericht nicht interessieren: Angeklagt sind nur Taten zwischen 2016 bis April 2019 – falls es früher weitere Vorfälle gab, sind sie verjährt.
Der Angeklagte schweigt
Richterin Katja Komposch hatte viele Fragen, auch an den Angeklagten. Doch Wolfgang Seibert schwieg. Der jetzt 76-Jährige mit dem grau-weißen Haarschopf saß neben seinem Anwalt Alexander Hoffmann, lauschte aufmerksam, aber ohne viel Regung, wie B. von einem Verein berichtete, in dem der Vorsitzende selbst die Bücher führte und sich Ausgaben genehmigte. Die Hürden waren gering: Niemand habe Lust auf die Buchhaltung gehabt, Kassenprüfungen fanden bestenfalls laienhaft statt, die zweite Vorsitzende sprach kaum Deutsch.
Erst im Nachhinein las B., die erst 2018 der Gemeinde beitrat, die Kontoauszüge: „Es ging Geld ab, tauchte aber nicht in der Bar-Kasse auf. Da muss ich sagen: Dann ist es weg.“ Die Gemeinde sei „ein Ein-Mann-Unternehmen“ gewesen. Das Unfassbare: „Niemand hat kontrolliert, auch nicht das Land, das Fördermittel für Bautätigkeiten überwies.“
Hoffmann erklärte in Seiberts Namen, dass er im Ehrenamt sehr viel Arbeit mit Einkäufen für Sabbat-Feiern und für Auftritte gehabt habe. Mehrfach sei im Vorstand besprochen worden, dass Seibert Kosten für Auto oder Telefon erstattet bekomme. Zudem habe Seibert rund 10.000 Euro durch Vorträge oder Preisgelder erwirtschaftet.
Überzeugend fand die Richterin das nicht: „Man kann nicht einfach Geld aus dem Vereinsvermögen abheben, weil man meint, es gehöre einem.“ Die Frage sei auch, warum private Einnahmen dort „gebunkert“ würden: „Wären die Honorare steuerpflichtig?“
Berg von Kontounterlagen
Zeitweise war der Ton zwischen Hoffmann und Komposch scharf: Die Richterin verwies darauf, dass es einen Berg von Kontounterlagen gab, den sie – „offenbar als Einzige“ – durchgearbeitet habe. Aus den Buchungen sei für sie klar, dass Seibert das Geld entnommen habe.
Für Seibert spreche, dass es ihm „leicht gemacht wurde“, gegen ihn, dass es sich um eine Jüdische Gemeinde handelte, mit einem entsprechenden Schaden in der Außenwirkung. Sie wandte sich an den Angeklagten: „Und ich habe noch kein Wort der Einsicht gehört, eher die Haltung, es stehe Ihnen zu. Dem ist so nicht, Herr Seibert.“
Wolfgang Seibert habe es genossen, mehr Geld zu haben – der Rentner hat nur rund 1.000 Euro im Monat zur Verfügung, sagte sein Anwalt. Heute sei Seibert „sehr unglücklich“ darüber: „Er hatte eine hohe Identifikation mit der Gemeinde. Mit Aufgabe des Amtes hat er seinen Lebensinhalt verloren.“
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