Wohnen ohne Parkplätze in Berlin: Nur ein kleines bisschen beruhigt
Das Experiment, den Kreuzberger Graefekiez parkplatzfrei zu machen, ist beim Zusammenstoß mit der rechtlichen Realität massiv geschrumpft.
Wie Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) und der Mobilitätsforscher Andreas Knie vom WZB erläuterten, sollen ab Ende April und über den Verlauf eines Jahres hinweg maximal 400 der rund 2.000 Parkplätze im Kiez wegfallen – bis zu 80 davon in einem sogenannten Kernbereich aus zwei winkelförmig aneinander grenzenden Abschnitten der Böckh- und Graefestraße. Hier sollen ab dem Sommer bisherige Stellplätze umgenutzt und zum Teil entsiegelt werden; man erhofft sich die rege Beteiligung der Anwohnenden, etwa im Rahmen von Workshops.
Die restlichen Stellplätze fallen über den gesamten Kiez verteilt punktuell zugunsten von Lade- und Lieferzonen sowie einem Dutzend „Jelbi“-Stationen weg. An Letzteren stehen Sharingfahrzeuge zur Ausleihe bereit. Wie schnell diese Maßnahmen umgesetzt werden, steht noch nicht fest. Es kommt dabei auch auf die Bedürfnisse der Gewerbetreibenden im Kiez an, mit denen das Bezirksamt Gespräche führen wird.
In einem zweiten Schritt will das WZB-Team um Andreas Knie die Erfahrungen im „Kernbereich“ auswerten und auf dieser Basis ein „Freiraumkonzept“ für den gesamten Kiez entwickeln. Über dieses wiederum soll die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Frühjahr 2024 beraten und abstimmen.
Es war auch ein Beschluss der grün-roten BVV-Mehrheit im Juni 2022 gewesen, der das Projekt angestoßen hatte – und für reichlich Gegenwind sorgte: Im vergangenen November triumphierte die im Bezirk als Splitterpartei agierende CDU mit der Einreichung von 1.600 Unterschriften für einen EinwohnerInnenantrag, der den Verkehrsversuch ablehnte.
„Die StVO ist eine Realität“
Dieser Gegenwind und drohende Klagen haben das Bezirksamt nun dazu bewegt, das ganze Projekt erst einmal mehrere Nummern kleiner anzulegen. Man habe sich „sehr gründlich“ beraten, sagte Annika Gerold am Dienstag, und sei zu dem Schluss gekommen, dass im bestehenden rechtlichen Kontext ein schrittweises Vorgehen sinnvoller sei: „Die StVO ist eine Realität, mit der wir umgehen müssen.“
Tatsächlich setzt die Straßenverkehrsordnung in ihrer aktuellen Form der Anordnung verkehrlicher Maßnahmen viel strengere Grenzen, als viele Fans der Mobilitätswende vermuten: Normalerweise müssen Eingriffe in den fließenden und ruhenden Verkehr mit der Abwehr konkreter Gefahren begründet werden. Im Graefekiez sei die Gefahrenlage allerdings „nur“ durchschnittlich, so die Stadträtin. Das sei wohlgemerkt nicht ihre politische Meinung, sondern eine rechtliche Einschätzung.
Die StVO sei nicht mehr zeitgemäß, sagte auch Andreas Knie: „Sie verlangt einen Blutzoll.“ Damit meint er, dass sich erst Unfälle ereignen müssen, bevor verkehrsberuhigende Maßnahmen umgesetzt werden können. Deshalb argumentiert das Bezirksamt laut Felix Weisbrich, dem Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes, bei der Umgestaltung des Kernbereichs mit einer überdurchschnittlichen – im juristischen Jargon: „qualifizierten“ – Gefahrenlage, die sich aus den dortigen Schulstandorten ergebe.
Mittelfristig soll die Entwicklung des „Freiraumkonzepts“ für den gesamten Graefekiez dann von einem Passus der StVO gestützt werden, der die „geordnete städtebauliche Entwicklung“ zu einer möglichen Voraussetzung für verkehrliche Eingriffe macht. Hier gelte es auch, ein „bauliches Missverständnis“ aus den 80er Jahren zu beheben, so Weisbrich: Dass es sich beim Greafekiez um eine sogenannte verkehrsberuhigte Zone handelt, ist zwar an der Beschilderung, nicht aber an der konventionellen Gestaltung der Straßen zu erkennen. Entsprechend hält sich niemand an Vorgaben wie das Fahren mit Schrittgeschwindigkeit.
Dass auch die abgespeckte Version des Versuchs aussagekräftige Resultate hervorbringen wird, davon gab sich WZB-Forscher Knie am Dienstag überzeugt: Auch die jetzt angestrebten Zahlen böten „genügend Irritationsmaterial“, das Projekt habe ausreichend Modellcharakter auch über Berlin hinaus. „Der Kiez hat die Chance, seine eigene Geschichte zu schreiben.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau