Wohnen mit Mehrwert und Zukunft: Avantgarde am Stadtrand
Vor hundert Jahren entstanden in Berlin wegweisende Wohnsiedlungen, die heute zum Welterbe der Unesco gehören.
Berlin zwischen Oxforder, Windsorer und Bristolstraße: Man könnte meinen, im Englischen Viertel, einer Hommage an König Eduard VII., hätte Großbritannien Modell gestanden. Doch nein. Es waren die Niederlande. Wir laufen an dreistöckigen Häuserzeilen vorbei, wie man sie aus Amsterdam kennt. Rote Ziegel, flach abgeschrägte Pultdächer. Tatsächlich hatte sich Bruno Taut, der die Siedlung 1924 zusammen mit Stadtbaurat Martin Wagner konzipierte, zuvor in Holland umgesehen. „Er ließ sich vor allem von den Bauten von Jacobus Johannes Pieter Oud inspirieren. Aber die hat er natürlich nicht einfach kopiert“, sagt Jorge Brunetto, der uns durch die Siedlung führt. Besondere Merkmale sind Erker und Loggien, die mit weiß verputzten Streifen aus den Fassaden treten, hell verputzte Treppenhäuser und expressionistische Stilelemente wie dunkel abgesetzte Ziegel unter den Fenstern.
Die Schillerpark-Siedlung im Bezirk Wedding ist die erste Station auf unserem Weg zu den Siedlungen der Moderne. Der Architekt, der uns begleitet, hat bereits während seines Studiums in Santiago de Chile vom wegweisenden Bauen im Berlin der Weimarer Republik gehört. Heute führt er als einer der Guides von Ticket B Interessierte zu den sechs Wohngebieten, die zwischen 1924 und 1934 entstanden und ebenso wie die Museumsinsel zum Welterbe der Unesco gehören. Mit ihm können wir uns davon überzeugen, wie innovativ die Hauptstadt in weniger gehypten Bezirken wie Reinickendorf ist.
Dort entstanden gleich mehrere Großsiedlungen im Zeichen des Neuen Bauens. Unter dem Eindruck der Wohnungsnot und dem Fehlen privaten Kapitals nach dem Ersten Weltkrieg setzten Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf genossenschaftliche Modelle und neuartige Gestaltungen mit Hilfe von kreativen Architekten und Stadtplanern.
Licht, Luft, Sonne
Zutritt
Ticket B, ein Team von Architekten u. Wissenschaftlern, zu dem auch Jorge Brunetto gehört, bietet maßgeschneiderte Führungen zum Baugeschehen in und um Berlin an. Informationen unter www.ticket-b.de. Auf die Bauten der Weimarer Republik hat sich außerdem Buchautor Arne Krasting (s. u.) von Zeitreisen spezialisiert. Info: www.zeit-reisen.de.
Eintritt
Wer wissen will, wie es sich anfühlt, in der Hufeisensiedlung zu wohnen, kann sich tage- oder wochenweise im „Tauten Heim“ einmieten. Info: www.tautes-heim.de.
Bücher
Als Lektüre zum Thema empfiehlt sich das nur antiquarisch erhältliche Bändchen „Siedlungen der Berliner Moderne“, Hg. Jörg Haspel und Annemarie Jaeggi im Deutschen Kunstverlag München Berlin. Sehr schön aufgemacht, gut lesbar und reich bebildert ist außerdem das Buch „Fassadengeflüster“ von Arne Krasting, Verlag für Regional- und Zeitgeschichte (20 €). Viel Wissenswertes enthält auch die Website www.welterbe-siedlungen-berlin.de. Weitere Informationen auf Berlins offiziellem Reiseportal www.visitberlin.de und der Website www.unesco.de.
Während anderswo die Blockbebauung mit feuchten Mietskasernen, dunklen Hinterhöfen und ungesunden Wohnverhältnissen das Stadtbild bestimmte, sollten hier auch Menschen mit einem geringen Einkommen ein Maximum an Lebensqualität bekommen. Licht, Luft und Sonne wollte man in die Wohnungen holen und sie menschenwürdig gestalten. Innen gut geschnitten mit Küchen, Bädern, Balkonen, oft auch gemeinschaftlichen Waschküchen unter dem Dachboden, lockern außen großzügige Grünzonen mit Spielplätzen und Ruhezonen die Wohnstätten auf.
Ein Konzept, das sich noch heute bewährt. Und die Anwohner der Schillerpark-Siedlung sind sichtlich stolz darauf, im Unesco-Welterbe zu wohnen. „Wobei der Denkmalschutz auch Einschränkungen mit sich bringt“, weiß Manfred Dannat, der hier seit 1969 zu Hause ist. „Man kann nicht einfach Party auf dem Rasen machen oder Fußball spielen.“ Auch das genossenschaftliche Konzept funktioniere nach wie vor. Die Siedlungskommission, in der Dannat lange mitgewirkt hat, vergibt die begehrten Wohnungen so, dass sie höchstens ein Zimmer mehr als Bewohner enthalten.
Besonders erfolgreich war das Duo aus Architekt Taut und Stadtbaurat Wagner im Süden von Berlin. Die Hufeisensiedlung, die zwischen 1925 und 1930 im Bezirk Neukölln entstand, gilt weltweit als Symbol des Neuen Bauens. Als wir an der Station Blaschkoallee aus der U-Bahn steigen, empfängt uns eine lange rote Häuserzeile mit wehrturmartig abgesetzten Treppenhäusern. „Rote Front“ wird sie genannt und zwar nicht nur der Farbe wegen“, meint der Stadtführer. Bruno Taut hätte die Zeile bewusst etwas provokativ den Häusern in traditioneller Bauweise auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegengestellt, die zeitgleich für die konservative Wohnungsbaugesellschaft DeGeWo entstanden. „Ein klares Statement des Neuen Bauens gegen die herkömmliche romantisierende Bauweise mit handwerklichen Elementen“, resümiert Brunetto. Was damals prompt auf Widerstand stieß. Wegen der Flachdächer wurde zeitweise ein Baustopp verhängt und die Polizei hätte um ein Haar den Stadtbaurat in Gewahrsam genommen.
Wir laufen die Fritz-Reuter-Allee hinunter, an einer Info-Station mit Café vorbei, dann öffnet sich die Häuserzeile. Eine breite Freitreppe führt ins Innere des Hufeisens mit Grünzone und kleinem Teich, der von einer 350 Meter langen Häuserfront umzingelt ist. Kinder spielen unter den Bäumen am Wasser. Anwohner schauen aus weißen Wohnhäusern mit blauen Loggien dem Treiben zu. Richtig kleinstädtisch wird es auf der anderen Seite des Hufeisens: Wohnstraßen mit zweigeschossigen Reihenhäusern. Rote, blaue oder gelbe Fassaden, vorn und hinten Gärten. Dazu säumen japanische Kirschbäume die Onkel-Bräsig-Straße. Bullerbü in Neukölln?
Form und Farbe
„Dabei sind hier viele Bauteile normiert“, erklärt Brunetto. „Taut und Wagner ging es um Typisierung und industrielle Fertigung, um Kosten zu sparen.“ In Sachen Form und Farbe haben die Planer bei den 679 Einfamilienhäusern und 1.285 Etagenwohnungen ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Auch im Inneren der Häuser, wie wir am „Tauten Heim“, einem der Reihenhäuser, ablesen können, das der Grafikdesigner Ben Buschfeld und seine Frau Katrin Lesser im Stil der 1920er Jahre gestaltet haben und an Besucher vermieten.
Der Salon grün, das Schlafzimmer blau – trotz der funktionalistischen, puristischen Formensprache wirkt es wohnlich und charmant. Vor dem Gebäude sorgt ein schmaler Garten mit Obstbäumen für Sichtschutz zur Straße. „In Coronazeiten ist man schon dankbar, wenn man ab und zu vor die Tür gehen kann“, schwärmt Buschfeld. Und in den Häusern könne man auch querlüften.
Keine Frage, die Menschen fühlen sich wohl hier. „Wenn ich von der Arbeit aus Mitte zurückkomme, kommt mir das vor wie ein Urlaubsort. So viel Luft und Platz“, schwärmt Anja Sokolow, die mit Mann und zwei kleinen Kindern in einem der Reihenhäuser wohnt. Zwar vermisst die Journalistin Einkaufsmöglichkeiten, lauschige Cafés und Restaurants. Trotzdem würde sie nicht mehr „in die Stadt“ ziehen, wie sie sagt, und ist froh, dass sie das Haus 2008 noch relativ günstig erworben haben. Inzwischen werden die Häuschen schon mal für 700.000 Euro angeboten.
Familien aus Prenzlauer Berg, auch viele Architekten ziehen hierher. Nachdem der Berliner Senat die Wohnungsbaugesellschaft Gehag verkauft hat, veräußerte die Deutsche Wohnen die Reihenhäuser nach und nach an private Eigentümer. Zugleich kletterten die Mieten. Anders als in der Schillerpark-Siedlung ist rund um das Hufeisen, das einst Vorbild für sozialen Wohnungsbau war, eine schleichende Gentrifizierung in Gang gekommen.
Die Genossenschaften
Die Gartenstadt Falkenberg hingegen ist immer noch genossenschaftlich organisiert. „1913 begonnen und 1916 durch den Ersten Weltkrieg zum Stillstand gekommen, hatte Taut hier vor den Toren der Stadt Dinge erprobt, die später in die Hufeisensiedlung einflossen“, berichtet der Guide. Von der S-Bahn-Station Grünau führt er uns an einem gesichtslosen Einkaufszentrum vorbei, dann taucht das Ensemble von geradezu niedlichen zweigeschossigen Häusern und Gärten auf. Hier sieht es noch mehr nach Bullerbü aus. Am auffälligsten sind die ungewöhnlichen Farbkombinationen, mit denen Bruno Taut, der bei der Berufswahl zwischen Architektur und Malerei geschwankt haben soll, experimentierte.
Kräftiges Blau neben strahlendem Weiß, ockergelbe Fassaden und lachsfarbene Fensterläden, dazu grüne oder rote Türen: Kein Wunder, dass der Volksmund von der „Tuschkastensiedlung“ spricht! Zweifellos haben die 80 Einfamilienhäuser und 48 Etagenwohnungen in sechs Mietshäusern viel Lebensqualität. Doch als Vorbild für Großsiedlungen, wie sie im Berlin der 1920er Jahre gebraucht wurden, taugte die Gartenstadt nicht.
Immerhin hat der produktive Architekt am Gestaltungselement der Farbe, einem preisgünstigen Mittel, um Lebensfreude in eine Siedlung zu bringen, auch in der Wohnstadt Carl Legien festgehalten. Markenzeichen der kompakten Anlage im dicht besiedelten Prenzlauer Berg, benannt nach einem Gewerkschaftsführer der 1920er Jahre, sind Balkone, die um die Ecke laufen, und großzügige Loggien, die sich zu Grünzonen öffnen. Aber auch die farbigen Fensterrahmen, Haustüren und Fassaden bescheren den 1.150 Wohneinheiten Leichtigkeit und Individualität.
Als Taut 1928 die Siedlung konzipierte, hatten sich die Bedingungen grundlegend geändert. Das Geld war knapp geworden, beim Bauen musste gespart werden. So wurden die Gebäude höher, die Wohnungen kleiner und Mietergärten durch Grünhöfe ersetzt. Dafür gesellten sich gemeinschaftlich genutzte Einrichtungen wie ein Fernheizwerk, eine Wäscherei und ein Kindergarten dazu. „Viel Lebensqualität auf beschränktem Raum, an denen sich viele heutige Neubauten ein Beispiel nehmen könnten“, resümiert Jorge Brunetto.
Tatsächlich sehen wir bei unseren Streifzügen durch Berlin jede Menge einfallslose Gebäude in die Höhe wachsen, die schnelle Rendite versprechen. Auch Architekt Thomas Krüger, Begründer von Ticket B, spricht von vielen vertanen Chancen in der Stadt. Woran liegt es? Zum einen an den Grundstückspreisen, die üppige Grünzonen zwischen den Häusern unbezahlbar machen.
Die klassische Moderne
„Taut und Wagner nutzten damals die Gunst der Stunde, als große Flächen von der Stadt gekauft werden konnten“, ist Ben Buschfeld überzeugt. Heute würden auch deutlich höhere Auflagen, zum Beispiel in Sachen Brandschutz, das Bauen verteuern. „Außerdem hatte die Stadt zumindest bis vor einiger Zeit weniger Einflussmöglichkeiten, weil Investoren fehlten“, gibt Krüger zu bedenken. Das hat sich zwar inzwischen geändert. Aber ein großer Wurf wie die Weiße Stadt, der fünften Station unserer Stadterkundung, ist heute wohl kaum noch denkbar.
Wobei die Großsiedlung im Bezirk Reinickendorf, die mit ihren kubischen Gebäuden als Inbegriff der Klassischen Moderne gilt, erst mal wie eine kalte Dusche auf uns wirkt. Zwei monumentale Torbauten flankieren die Aroser Allee an der Kreuzung mit Emmentaler und Gotthardstraße, der Verkehr rollt unter einem viergeschossigen Brückenhaus hindurch.
Keine Spur von Gemütlichkeit, wie wir sie vom Schweizer Viertel erwartet hätten. Von 1929 bis 1931 entstanden, musste hier noch kostengünstiger gebaut werden, was mit einer weitergehenden Typisierung einherging. Für die Gebäude zeichnen die Architekten Bruno Ahrends, Wilhelm Büning und der Schweizer Otto Rudolf Salvisberg.
Individuell gestaltete Häuserzeilen
Dabei ist der Name „Weiße Stadt“ Programm. Auf den ersten Blick wirkt alles weiß, glatt, puristisch, wie es dem International Style entsprach, der sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchsetzte. Aber selbst wenn die Funktionalisten die Farbe ablehnten – Brunetto weist uns auf die gelben Regenfallrohre, blaue und rote Dachvorsprünge hin, die das Weiß noch intensiver leuchten lassen. Mit dem Eindruck der Monumentalität kontrastieren im Übrigen die Grünzonen hinter den Häuserzeilen, wo Kinder spielen und Anwohner in der Sonne Zeitung lesen. Neben den lauschigen, parkähnlichen Anlagen des Gartenarchitekten Ludwig Lesser hat sich auch ein Kindergarten erhalten.
Die letzte Etappe in der Entwicklung der Großsiedlungen jener Zeit markiert die Siemensstadt. Zwischen 1929 und 1934 in nächster Nähe zum Siemens-Schaltwerk, Europas erstem Fabrikhochhaus, entstanden, hat sie fast den Charakter einer Bauausstellung. „Die Architekten, die an ihr mitwirkten, gehörten fast alle der fortschrittlichen Vereinigung Der Ring an. Deshalb wird sie auch die Ring-Siedlung genannt“, sagt der Guide.
Das Konzept der Siedlung, die aus individuell gestalteten Häuserzeilen besteht, stammt von Hans Scharoun, der hier selbst jahrelang wohnte. An den von ihm entworfenen weißen Häuserzeilen können wir Bullaugenfenster und Balkongondeln entdecken, die Formen der Dächer erinnern an eine Reling und die Kommandobrücke von Dampfern. Ob es damit zu tun hat, dass Hans Scharoun aus Bremen stammte?
Optimale Besonnung
Viel nüchterner als Scharouns im Volksmund „Panzerkreuzer“ genannte Gebäude wirken die Wohnzeilen von Walter Gropius und der sogenannte Lange Jammer, ein 338 Meter langer Riegel, den Otto Bartning vor die damals (und künftig wieder) dort verkehrende Siemensbahn schob. Wesentlich verspielter geben sich wiederum die Häuser von Hugo Häring mit Fassaden in Beigetönen und nierenförmigen Balkonen. Ja, selbst wenn das Ensemble aus 1.279 Wohnungen aus endlosen Häuserzeilen besteht, herrscht keine Monotonie.
Für zusätzliche Abwechslung und nachbarschaftliches Miteinander sorgen üppige Grünzonen. Dafür ergänzte Gartenarchitekt Leberecht Migge die vorhandene Baum- und Wiesenlandschaft nahe der Jungfernheide durch zusätzliche Birken, Pappeln und Kletterpflanzen, die sich an Müllhäusern hinaufziehen.
„Zusammen mit der optimalen Besonnung durch die Nord-Süd-Ausrichtung der Gebäude bietet die Siemensstadt auf kleinstem Wohnraum größtmögliche Lebensqualität und ist wegweisend für durchgrünte Stadtlandschaften“, fasst Brunetto zusammen. Auch sein Kollege Thomas Krüger findet dass die Welterbe-Siedlungen noch heute Modellcharakter haben: „Es muss wieder ein Zusammenspiel sein von Visionären sowohl auf politischer als auch auf planerischer Seite, um so elementare Themen wie Wohnungsbau nicht zu vernachlässigen. Man kann diese Welterbe-Dokumente nur mitnehmen in die Zukunft und immer wieder daraus lernen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen