Wohlfahrtsverband über Hartz-IV: „Es geht nicht nur ums Überleben“
Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband verlangt 520 Euro für Hartz-IV-Bezieher. Erst dann sei Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich.
taz: Herr Schneider, warum halten Sie den von der Bundesregierung geplanten Anstieg der Hartz-IV-Regelsätze für zu niedrig?
Ulrich Schneider: Mit der kümmerlichen Regelsatzerhöhung werden Menschen weiter ausgegrenzt. Diese 409 Euro lassen nicht mal ein Minimum an Teilhabe an dieser Gesellschaft zu. Sie sind das Ergebnis eines geradezu abenteuerlichen Mixes von willkürlichen Eingriffen in die Statistik und nickeligen Streichungen bei Ausgabenpositionen. Das hat mit einem soziokulturellen Existenzminimum nichts mehr zu tun.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert eine Erhöhung auf 520 Euro. Wie begründen Sie die Differenz?
Wir haben praktisch die gleichen Berechnungen durchgeführt wie die Bundesregierung. Nur haben wir einige der willkürlichen Eingriffe in die Statistik unterlassen. Zum Beispiel haben wir die Referenzgruppe nicht auf 15 Prozent der Ärmsten angesetzt, sondern auf die untersten 20 Prozent, wie das früher auch der Fall war. Dann hat man schon mal 20 Euro mehr im Regelsatz. Zudem haben wir eine ganze Reihe von Positionen in unsere Berechnung einbezogen, die die Bundesregierung aus unserer Sicht zu Unrecht gestrichen hat.
Welche notwendigen Ausgaben fehlen Ihres Erachtens in der Berechnung des Bundesarbeitsministeriums?
Da wurden sogar Cent-Beträge für die chemische Reinigung gestrichen, für einen Weihnachtsbaum, für Grabschmuck oder Hamsterfutter. Da wird Menschen verunmöglicht, wenigstens einmal im Monat in ein Café zu gehen und sich ein Stückchen Kuchen zu gönnen. Bei der Bekämpfung von Armut geht es doch nicht nur um Ausgaben, die man zwingend zum bloßen Überleben braucht. Es geht doch auch darum, wenigstens auf bescheidenstem Niveau Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich zu machen.
Welche Erklärung haben Sie für das Vorgehen von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles?
Frau Nahles ist Ministerin einer Bundesregierung, die schlechterdings kein Geld ausgeben will. Deshalb handelt sie so, nämlich gegen ihre eigene Überzeugung. Noch im Jahr 2010 hat sie die Kritik des Paritätischen voll geteilt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals sogar einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem sie forderte, dass der Regelsatz genau so bemessen werden soll, wie wir es nun getan haben. Wäre Frau Nahles ihrer Überzeugung treu geblieben, hätte sie auch auf 520 Euro kommen müssen.
Was würde sich durch die von Ihnen vorgeschlagene Expertenkommission verbessern?
Was braucht ein Mensch? Diese entscheidende Frage ließe sich nicht mehr hinter statistischen Spielchen verstecken, wenn sich eine unabhängige Expertenkommission mit ihr beschäftigen würde. Wir hätten dann eine transparentere Diskussion und ein demokratischeres Verfahren.
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