„Wo ist Afrika?“ im Linden-Museum: Viele einzelne Geschichten
Die neue Dauerausstellung im Stuttgarter Linden-Museum beleuchtet die Ambivalenz seiner Sammlung – und kommt ohne spektakuläre Inszenierungen aus.
Stone Karim Mohamad gehört zum Advisory Board for the Representation of Africa Collections (ABRAC). Sandra Ferracuti hat den ehrenamtlichen Kreis von Stuttgartern mit afrikanischen Wurzeln vor drei Jahren ins Leben gerufen. Bei der Entwicklung des neuen Ausstellungskonzepts seien sie ihre Augen und Ohren in der Stadt gewesen, sagt sie.
Jedes Mitglied des Boards habe etwas Konkretes zu der neuen Schausammlung beigetragen, aber auch zu ihrer besonderen „Sensibilität“. Die Wissenschaftlerin setzt auf eine dialogische Forschung, auf das Gespräch, Ideenaustausch. An Objektivität glaubt sie nicht.
Sie konsultierte Spezialisten, etwa den aus Benin-City stammenden, in New York lebenden Künstler Enotie Ogbebor. Er steuerte Informationen zu dem seltenen Hüftanhänger aus Elfenbein in Form einer Maske bei, der in den 1960er Jahren vom Linden-Museum aus dem Handel erworben wurde.
Der Anhänger erinnert an die Königinmutter Idia aus dem 15. Jahrhundert. Das fein geschnitzte, mit roten Perlen besetzte Objekt gehörte zu den Insignien der Obas, der Könige von Benin, und wurde 1897 von britischen Truppen aus den Schlafgemächern des Oba Ovonramwen entwendet.
Spuren des Kolonialismus
Namen und Orte ausfindig zu machen, gehört zu den Leitlinien des Hauses. Das ist aber bei etwa 40.000 Objekten der Sammlung ein utopisches Unterfangen, selbst bei den rund 500 Objekten, die aktuell gezeigt werden, bleiben noch viele Skulpturen stumm. Die Stuttgarter Afrika-Sammlung verfügt hauptsächlich über Werke aus Kamerun, Mosambik, Nigeria und Tansania, den ehemaligen deutschen Kolonien.
Den Auftakt bildet deshalb das Gedenken an die Kolonialzeit und ihren Sammelwahn. Eng gedrängt liegen Pfeile, Gefäße und Werkzeuge in wandhohen Vitrinen. Darunter ist ein „Köcher für Trinkrohre des Sultans“ aus Ruanda, den Hauptmann Betke in die Sammlung eingebracht hat. Das steht handschriftlich auf einem vergilbten Schild. Aber wer war Hauptmann Betke? Und unter welchen Umständen kam er in den Besitz des Köchers?
Viele Geschichten müssen erst noch erzählt, manche Objekte neu entdeckt werden. Die „Kalender“, glatt geschliffene, handliche Holzstücke mit Löchern, eines für jeden Tag der Woche, wurden zwischen 1902 und 1923 erworben und stammen von Afrikanern, die für europäische Firmen gearbeitet haben. Es sind Belege einer äußerst subtilen Form der Kolonisierung, der Kolonisierung der Zeit. Dass jede Stunde zählt, ist in Europa eine Erscheinung der Industrialisierung und Optimierung von Arbeit gewesen.
Poesie und Tiefe – und Schrecken
In einem Kabinett liegt eine lange Halskette aus fein geschliffenen Straußeneierschalen-Segmenten unter Glas. Schön anzusehen, doch ihre Geschichte lässt den Atem stocken. Laut Inventarliste wurde sie „einer Hererofrau, welche während des Gefechts von Otjihinamaparero am 25. Februar 1904 durch eine Granate getötet wurde, abgenommen“. Sie symbolisiert in der Ausstellung den Völkermord an den Herero. Aber nicht nur.
Die Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann machte Sandra Ferracuti auf historische „Praise Songs“ aufmerksam. Einer erzählt von einer getöteten jungen Frau, der ebenfalls ihre Halskette abgenommen wurde. Geht es beides Mal um dieselbe Frau? Wer sich die Stimmen anhört und den übersetzten Text liest, meint, für einen Moment einzutreten in das kulturelle Erbe Afrikas, seine Poesie und Tiefe.
Wo ist Afrika?, fragt der Titel der Ausstellung. Auf diese Frage finden die Museumsbesucher keine einfachen Antworten vor. Es sei völlig unmöglich, die vielschichtigen Beziehungen zwischen Europa und Afrika anhand von ein paar Objekten darzustellen, sagt Sandra Ferracuti. Was sie zeigt, hat exemplarischen Charakter, meist sind es Sammlungsstücke, zu denen es neue Informationen gibt.
Viele Stimmen zulassen
Seit den 1970er Jahren unterhält das Linden-Museum enge Verbindungen mit dem Königreich Obu in Nordwest-Kamerun. Dort ansässige Künstler haben damals Teile des Königspalasts für das Stuttgarter Museum nachgebaut. Um den Kontakt zu vertiefen, reiste Sandra Ferracuti 2017 in die Hauptstadt Elak, um Tanzmasken des Schnitzers Fai Mankoh zu erwerben.
Und um zu zeigen, dass die Bedeutung solcher Objekte eng mit ihrer Verwendung verknüpft ist, präsentiert sie die geschnitzten Skulpturen, abstrahierte Tierköpfe oder schematisierte menschliche Gesichter, auf lebensgroßen, abstrahierten Figuren. Daneben läuft ein Video, das die auf dem Kopf getragenen Masken in Aktion zeigt.
Die Kuratorin lässt viele Stimmen zu, ein paar Grundsätze sind ihr wichtig. Sie unterscheidet nicht kategorisch zwischen Kunstwerk und Alltagsgegenstand. Sie geht von einem lebendigen Traditionsbegriff aus, der ständig erneuert werden muss. Und sie betont, dass in der Ausstellung nicht die Illusion aufkommen darf, man könne mit einer paar Exponaten die Kultur eines ganzen Kontinents darstellen.
Ausstellungen wie diese bleiben dennoch ein Balanceakt zwischen der ungeheuren Präsenz des kolonialen Erbes und dem Versuch, eine zeitgemäße Beziehung zu den Objekten herzustellen. Museen seien ein Instrument der Einverleibung anderer Kulturen, schreiben Felwine Saar und Bénédicte Savoy in ihrem Restitutionsbericht, der vom französischen Präsidenten in Auftrag gegebenen wurde.
Die Autoren zitieren aber auch den Philosophen und Historiker Krzysztof Pomian. Der definierte Museumsobjekte als „Semiophoren“, als Dinge, die die Potenzialität neuer Kontakte in sich tragen. Es geht darum, dass die Europäer ihre Deutungshoheit abgeben müssen und sich um einen neuen Dialog bemühen.
Das Linden-Museum verweigert spektakuläre Inszenierungen, setzt dagegen auf viele einzelne Erzählungen. Kultur sei kein geschlossenes System, sondern etwas, dass sich permanent ändere, bemerkt Sandra Ferracuti. Dazu braucht es eine neue Qualität gegenseitigen Verständnisses. Das beginnt vielleicht mit einem Moment der Irritation. Meeresrauschen im letzten Raum, ein Video, das einen Blick auf das Mittelmeer erlaubt. Auf welcher Seite der Betrachter steht, der europäischen oder afrikanischen, bleibt offen.
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