
Wo die AfD nicht sticht: Ein Einzelfall
Arnis in Schleswig-Holstein ist was Besonderes: die kleinste Stadt Deutschlands. Und bei der Bundestagswahl gab's hier nur eine Stimme für die AfD.
N ein, sagt Jens Matthiesen. Nein, er wisse nicht, wer in seiner Stadt bei der Bundestagswahl die AfD gewählt hat. Matthiesen ist Bürgermeister von Arnis, einem Ort mit einem Superlativ: Die Gemeinde in Schleswig-Holstein ist mit rund 280 Bürger:innen Deutschlands kleinste Stadt. Und auch was die Wahlergebnisse angeht, fällt Arnis aus dem Rahmen. Genau eine Person stimmte für die AfD, so wenig wie in kaum einer anderen Gemeinde. Jens Matthiesen ärgert sich trotzdem: „Wir hätten gern wieder das Ergebnis der Europawahl gehabt. Da gab’s aus Arnis keine einzige Stimme für die AfD.“
Matthiesen sitzt in seinem Büro im Rathaus, hinter sich eine Wand mit alten Karten und Bildern in Goldrahmen, in der Mitte eins mit einem Segelschiff, das unter dramatischen Wolken kreuzt. Aus dem Fenster kann der Bürgermeister auf die Lange Straße schauen, die Hauptader und einzige richtige Straße der Stadt.
Vor dem Rathaus hängt das Wahlergebnis in einem Schaukasten mit amtlichen Bekanntmachungen: 73 Arnisser:innen machten ihr Kreuz bei Robert Habeck, dem Spitzenkandidaten des Wahlkreises 1, das entspricht 48 Prozent der Erststimmen. Dahinter liegen die SPD-Kandidatin und der von der Minderheitenpartei SSW. Bei den Zweitstimmen siegten die Grünen ebenfalls, gefolgt von SSW und SPD. Die eine Stimme für die AfD bedeutet umgerechnet 0,7 Prozent.
Die Grafik auf der Seite des Landeswahlleiters eigt Arnis als kleinen grünen Flecken, umgeben von einem schwarzen – die Gemeinde Grödersby, wo die CDU siegte – und einem dicken blauen Flecken: In der Gemeinde Rabenkirchen-Faulück wurde die AfD die stärkste Kraft. Optisch erinnert die Grafik an die Zeichnung in den Asterix-Comics, jene mit dem unbeugsamen gallischen Dorf, das von Römerlagern umkreist ist. Besitzt Arnis einen Zaubertrank, um rechtes Gedankengut fernzuhalten?
Dass Arnis heute als Stadt gilt, verdankt es ausgerechnet einer Reform der NS-Zeit. 1933 wurde bestimmt, dass in Schleswig-Holstein alle Orte, die bisher Städte oder Flecken waren, nun als Städte geführt werden sollten. Der zuständige Landrat bestätigte den „städtischen Charakter“ des Winzortes, der im Jahr 1667 gegründet wurde.
Bettina Kirchberg aus Arnis
Damals flohen 64 Familien aus dem Nachbarort Kappeln, um der Lehnsherrschaft zu entgehen, und gründeten eine Siedlung auf einer kleinen Insel, die später einen Damm zum Festland erhielt. Damals wie heute bildet die Lange Straße mit ihren Giebelhäusern die Hauptachse. Sie reicht von der Schifferkirche bis zum Ostseefjord Schlei, der Arnis von drei Seiten umspült.
Die Nähe zum Wasser prägt das Leben. Möwen kreischen, im Hafen dümpeln Segelboote. Drei Werften und mehrere Schiffausstatter arbeiten in Arnis, es gibt Cafés und Gaststätten, Kunstgewerbe, Zimmervermietung. Im Sommer überschwemmen Tourist:innen den Ort. Das ist, wie in allen Ferienorten, Fluch und Segen zugleich. Die Gäste bringen Geld und Trubel, aber die Einheimischen erzählen auch von Urlauber:innen, die trotz Verbotsschildern mit dem Auto in die Stadt fahren, und solchen, die ungeniert in die Fenster der Wohnhäuser schauen.
„Auf den ersten Blick ist das hier Bullerbü“, sagt Bettina Kirchberg, Co-Geschäftsführerin einer Unternehmensberatung mit Sitz in Arnis. Die Kommunikationswirtin und PR-Expertin zog vor 20 Jahren aus Hamburg an die Schlei und weiß, dass der erste Blick trügt: „So idyllisch Arnis ist, es ist eine Stadt mit den Problemen und Streitereien, die es überall gibt.“ Nur eben in viel kleinerem Maßstab.
Jens Matthiesen, Bürgermeister von Arnis
Wirtschaftlich geht es dem Ort vergleichsweise gut, aber Bürgermeister Matthiesen und sein Stadtrat müssen den Bau eines neuen Feuerwehrgerätehauses stemmen. Ein weiteres großes Thema ist die Fähre zur anderen Seite der Schlei, die seit Jahren stillliegt – die Stadt übernimmt nun den Betrieb. Auch die wachsende Zahl der Ferien- und Zweitwohnungen beschäftigt den Ort. Noch leben in Arnis viele Menschen dauerhaft, darunter auch Nachfahren der Gründerfamilien. In letzter Zeit seien mehrere junge Leute zugezogen, freut sich Matthiesen. Aber er sieht mit Sorge, wenn Häuser im Stadtkern zu hohen Preisen angeboten werden: „Das können sich normale Familien nicht leisten.“
Das Wahlergebnis habe ihn nur teilweise überrascht, sagt der 67-Jährige, der dem SSW, der Partei der dänischen und friesischen Minderheit, angehört. Der SSW ist im Stadtrat stärkste Kraft, alle anderen Sitze gehören der Vereinigung „Bürger für Arnis“. Weitere Parteien gibt es im Ort nicht. Aber viele junge Leute, die bei den Werften oder im Tourismus arbeiten, wählten Grün, vermutet Matthiesen.
Er hat eine These, warum die AfD so schlecht abschnitt: „Hier gibt es viele Segler, und die sind weltoffen.“ Matthiesen besitzt selbst ein Boot und wollte im Ruhestand eigentlich viel öfter auf See sein. Doch weil sich sonst niemand fand, übernahm er ehrenamtlich den Bürgermeisterposten.
Bettina Kirchberg, die Kommunikationsexpertin, hat eine andere Theorie: „Arnis besitzt eine tolle Gesprächskultur. Alle reden miteinander.“ Einen ständigen Austausch gibt es über eine WhatsApp-Gruppe, an der „ganz Arnis plus Menschen aus dem Umland“ beteiligt seien. Aber man trifft sich auch leibhaftig, etwa bei einem Spaziergang auf dem Rundweg, der längs der Schlei an den Gärten vorbei und über das Betriebsgelände der Werften führt. „Im Winter kommst du in zwanzig Minuten rum, im Sommer brauchst du vier Stunden, weil überall geschnackt wird“, sagt Kirchberg.
Segeln und Reden: Erklärt das den Unterschied zwischen Arnis, AfD-Anteil 0,7 Prozent, und Rabenkirchen-Faulück, AfD-Anteil 24,7 Prozent? Kaum fünf Kilometer liegen zwischen beiden Orten. Der größte Teil der Gemeinde Rabenkirchen-Faulück besteht aus Feldern und Wiesen. Die rund 650 Einwohner:innen verteilen sich über 14 Quadratkilometer. Es gibt große Bauernhöfe, eine Tischlerei, einen Golfplatz, einen Campinglatz an der Schlei.
„Tourismus ist zwar wichtig, aber die Landwirtschaft spielt für uns die größte Rolle“, sagte Bürgermeister Reinold Hillebrand von der Wählergemeinschaft Rabenkirchen-Faulück im Interview mit der Lokalzeitung Schleibote im Februar, kurz vor der Wahl. Die Gemeinde sei nicht verschuldet, das wichtigste Projekt in diesem Jahr ist der Bau eines Spielplatzes. Der Bürgermeister will die Energiewende voranbringen, es sollen Photovoltaikflächen entstehen, darunter eine sogenannte Agrisolaranlage, bei denen Kühe unter den Solarplatten grasen. Die Gemeinde erhofft sich eine Beteiligung am Gewinn. Die Pläne seien im Dorf bekannt, und auch wenn allen klar sei, „dass die Landschaft dadurch nicht schöner wird“, gebe es keine Kritik, sagte der Bürgermeister der Zeitung. Nach der Wahl war Hillebrand entsetzt über das Ergebnis für die AfD.
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Haben die Menschen gegen den Wandel gestimmt? Aber in Schleswig-Holstein profitieren viele Gemeinden von Solar- oder Windparks, die schwarz-grüne Regierung, die das Land klimaneutral machen will, ist beliebt. Und warum wusste der Bürgermeister nichts von der Protesthaltung im Ort?
Anders als in Arnis hat Rabenkirchen-Faulück keine echte Mitte, keinen Treffpunkt. Wer sich hier bewegt, tut es per Auto. Der Lenker eines vorbeifahrenden Wagens grüßt nicht, nur sein Hund auf dem Beifahrersitz zeigt hechelnd die Zunge.
In Arnis, das zu klein für Autos ist, können sich die Menschen nicht ausweichen. Und sie versuchen, im Gespräch zu bleiben. Bettina Kirchberg berichtet, dass nach der Wahl in der Arnisser WhatsApp-Gruppe der Aufruf an den oder die AfD-Wähler:in erschien, sich zu melden: „Wir können Tee trinken und klönen.“ Das sei typisch Arnis, sagt die Unternehmensberaterin: „Gelassen bleiben und zum Schnacken einladen.“ Gemeldet hat sich aber niemand.
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