Wissenschaftsjournalistin über Flora: „Pflanzen nehmen fein wahr“
Tiere sind fühlende Wesen, so weit sind wir heute. Aber muss man Mitleid mit Pflanzen haben? Ein Gespräch über Schmerz und Kommunikation der Flora.
taz: Frau Schlanger, was können Pflanzen fühlen?
Zoë Schlanger: Pflanzen nehmen ihre Umwelt unglaublich fein wahr. Sie haben keine Nerven wie Menschen oder Tiere, aber sie reagieren auf Licht, Geräusche, Gerüche, Feuchtigkeit, Berührung und Gravitation und passen sich auf kreative Art und Weise an. Ob das nun heißt, dass sie fühlen … nun, genau dieser Frage bin ich nachgegangen.
taz: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich entlang dieser Frage ein „Krieg“ in der Botanik entfacht hat. Wer kämpft hier gegen wen?
Schlanger: Der Streit entzündet sich vor allem an zwei Worten: Intelligenz und Bewusstsein. Naturwissenschaftler mögen schwammige Worte nicht. Aber Bewusstsein und Intelligenz sind genau die Art von Wörtern, bei denen es uns selbst bei Menschen schwerfällt, genau zu definieren, was sie bedeuten. Das eine Lager in der Botanik will verhindern, dass wir diese Komplexität in die Pflanzenwelt tragen.
ist Wissenschaftsjournalistin beim US-amerikanischen Magazin The Atlantic. Am 9. Oktober erscheint ihr Buch „Die Lichtwandler. Wie Pflanzen uns das Leben schenken“ in Deutschland.
taz: Das klingt vernünftig. Warum wollen andere Wissenschaftler:innen denn überhaupt von Intelligenz und Bewusstsein sprechen?
Schlanger: Die andere Seite argumentiert, es sei endlich an der Zeit, unsere Definitionen von Bewusstsein und Intelligenz zu erweitern. Pflanzen interagieren auf eine sehr aktive, spontane und kluge Weise mit ihrer Umwelt. Wenn man das nicht Intelligenz nennen dürfe, dann sei das ein Problem unserer westlichen, menschenzentrierten Definition von Intelligenz.
taz: Die Debatte ist mittlerweile so rau geworden, dass Sie bei der Recherche auf Wissenschaftler gestoßen sind, die Angst hatten, mit Ihnen über das Thema zu sprechen. Woher kommt diese Angst?
Schlanger: Es ist nicht das erste Mal, dass die Pflanzenverhaltensforschung mit dieser Art von Kontroverse konfrontiert wird. 1973 erschien das Buch „Das geheime Leben der Pflanzen“. Ein weltweiter Bestseller. Für den Film schrieb Stevie Wonder den Soundtrack. Das Buch und der Film waren voller unwissenschaftlicher Ideen, zum Beispiel, dass Pflanzen lieber klassische Musik als Rockmusik hören und dass sie möglicherweise Gedanken lesen können. Auch heute noch glauben Leute an diese Dinge. Dieses Buch hat die Finanzierung von der Erforschung von Pflanzenverhalten um Jahre zurückgeworfen, einfach weil es so peinlich und falsch war.
taz: In Deutschland hat der Förster Peter Wohlleben ein Buch mit einem erstaunlich ähnlichen Titel geschrieben: „Das geheime Leben der Bäume“. Wohlleben beschreibt Wälder darin als eine Gemeinschaft kooperierender Lebewesen, in der Mutterbäume ihren eigenen Nachwuchs durch unterirdische Pilznetzwerke nähren. Kürzlich haben 30 Wissenschaftler eine Arbeit veröffentlicht, in der sie Wohlleben unwissenschaftlichen „Anthropomorphismus“, also Vermenschlichung, von Bäumen vorwerfen. Sie haben mit beiden Seiten gesprochen: Ist es wirklich gefährlich, Pflanzen und Bäumen menschliche Eigenschaften zuzuschreiben?
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Schlanger: In der Wissenschaft gibt es die starke Vorstellung, dass jede Vermenschlichung von anderen Lebewesen schlecht ist. Sie entspringt dem Glauben, dass die Öffentlichkeit nicht in der Lage ist, komplexe Wahrheiten zu verstehen. Natürlich sind andere Lebewesen nicht genauso wie wir. Unsere menschlichen Vorurteile können uns dazu verleiten, falsche Annahmen über sie zu treffen, wenn wir nicht aufpassen. Wir wissen, dass Pflanzen Sinne haben, dass sie wahrnehmen, dass sie defensiv auf Angriffe reagieren. Aber bedeutet das, dass sie Schmerzen empfinden? Darauf deutet noch nichts hin.
taz: Das heißt, wir sollten Pflanzen besser nicht vermenschlichen?
Schlanger: Nicht ganz. Es gibt auch menschliche Metaphern, die ich nützlich finde. Zum Beispiel bei der Akustik. Die Schallwellen, die wir als Klang hören, nehmen Pflanzen als Schwingungen wahr. Sie haben zwar kein Gehirn, um sie als Klang wahrzunehmen, aber sie verarbeiten die in den Vibrationen enthaltenen Informationen. Für diesen Prozess das Wort „hören“ zu verwenden, geht für mich in Ordnung. Es ist eine Metapher, eine Brücke für unsere menschliche Perspektive. Es hilft uns, ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Pflanze tut.
taz: Unter Menschen herrscht ein starker Glaube an unsere Einzigartigkeit. Sind Pflanzen uns ähnlicher, als wir glauben?
Schlanger: Wenn man sich genauer anschaut, wie Pflanzen kommunizieren, wie sie ihre genetischen Geschwister erkennen können oder sich mit Hilfe ausgeklüngelter Strategien gegen Schädlinge verteidigen, dann sieht man, wie sie sich genau wie alle anderen Organismen, über Jahrtausende entwickelt haben, um zu überleben und zu gedeihen. Diese Erkenntnis hat mich demütig gemacht. Ich hatte das Gefühl, mich in einer Art Lebensgeflecht neu zu positionieren und diese Vorstellung von einer Art Hierarchie mit uns selbst an der Spitze hinter mir zu lassen.
taz: Sie haben Labore, Höhlen und Regenwälder rund um den Globus bereist. Welche Erfahrung hat Sie am meisten beeindruckt?
Schlanger: Eine Recherchereise in den Süden von Chile. Dort war ich mit dem Botaniker Ernesto Gianoli unterwegs und wir haben die Rebe Boquila trifoliolata untersucht, eine sehr einfach aussehende, kleine, dreiblättrige Pflanze. Vor einigen Jahren hatte Gianoli entdeckt, dass die Rebe ihre gesamte Blattstruktur so verändern kann, dass sie so aussieht wie fast jede andere Pflanze, die neben ihr wächst.
taz: Also fast wie ein Chamäleon?
Schlanger: Ja, genau! Sie passt ihre Blätter so an, dass sie aussehen wie die Blätter in ihrer Umgebung. Andere Fälle von Nachahmung bei Pflanzen wurden schon früher dokumentiert, aber dabei handelte es sich meist um lange Prozesse, bei denen es eine evolutionäre Co-Entwicklung zwischen zwei Spezies gab. Die Boquila trifoliolata scheint aber alles nachzuahmen, was in ihrer Nähe ist. Eine einzelne Pflanze kann bis zu vier verschiedene Blätterarten gleichzeitig imitieren.
taz: Was genau haben Sie denn beobachten können, als Sie im chilenischen Regenwald vor der Boquila trifoliolata standen?
Schlanger: Ich konnte sehen, wie eine Pflanze, deren Blätter normalerweise so groß sind wie eine 1-Euro-Münze, in der Lage war, mehrmals so große Blätter auszubilden. Manche der Blätter waren nun länglich statt rund. In anderen Fällen wuchs eine Spitze, die der Spitze eines Blattes einer anderen Pflanze entsprach. Die Boquila trifoliolata ahmte Blatttextur, Farbe und Adermuster nach. Die Debatte darüber, wie sie das macht, ist in vollem Gange. Manche Botaniker:innen gehen gar der These nach, dass die Pflanze „sehen“ könnte.
taz: In einem Labor haben Sie eine Pflanze mit einer Pinzette gekniffen, um unterm Mikroskop zu sehen, wie sie das beeinflusst. Hat es sich so angefühlt, als würden Sie die Pflanze verletzen?
Schlanger: Ja und nein. In diesem Labor in Wisconsin werden pflanzliche Verletzungsreaktionen untersucht. Dafür werden fluoreszierenden Proteine in Pflanzen eingebracht, die als Reaktion auf Berührung aufleuchten. Ich saß also in diesem dunklen Mikroskopraum und habe mit einer Pinzette die Mittelader des Blattes gekniffen, und nachdem ich schon so viel über die sensorischen Fähigkeiten von Pflanzen berichtet hatte, hat mich das ziemlich viel Überwindung gekostet. Aber dann habe ich daran gedacht, wie ich vor ein paar Minuten einen Salat gegessen habe – und zugekniffen. Zu sehen, wie von der Stelle dieses Leuchten ausging, das Venensystem hinunter, bis sich das Signal meiner Berührung innerhalb von zwei Minuten über die gesamte Pflanze ausgebreitet hatte, hat mir gezeigt, wie unglaublich empfindlich Pflanzen auf verletzende Berührungen oder eben auch das Knabbern einer Raupe reagieren.
taz: Wie haben Sie sich in dem Moment gefühlt?
Schlanger: Kurz habe ich mich schlecht gefühlt. Aber Pflanzen haben keine Neuronen, keine Schmerzrezeptoren. Was ich gesehen habe, ist eine komplexe Kaskade von Signalen, die eine Abwehrreaktion fördert. Weil Pflanzen kein Gehirn haben, ist immer noch sehr mysteriös, wie dieses Signal dann eine Reaktion im gesamten Körper der Pflanze auslöst.
taz: Hat Ihre Forschung verändert, wie Sie sich ernähren?
Schlanger: Nein, nicht wirklich. Wir sind Tiere, die Pflanzen essen müssen. Pflanzen stellen jedes Zuckermolekül her, das wir jemals zu uns genommen haben. Ohne die kostbare Glukose, die Pflanzen aus Sonnenlicht, Wasser und Luft für uns synthetisieren, könnten wir nicht überleben. Aber die Arbeit an meinem Buch hat meine moralische Einstellung zu Pflanzen verändert.
taz: Was meinen Sie damit?
Schlanger: Nehmen wir das Beispiel Abholzung. Ein Aspekt davon ist, dass Bäume Kohlenstoff binden, was sehr nützlich ist, um unser Klima unter Kontrolle zu halten. Aber jetzt sehe ich die Abholzung des Regenwaldes nicht mehr nur als Klimaproblem, sondern auch als ein moralisches Problem. Das Leben der Bäume zu beenden, obwohl es Alternativen gäbe, fühlt sich für mich an, als würden wir ihren Lebenswillen missachten.
taz: Aus ähnlichen Tierschutzgründen sind in den letzten Jahren viele Menschen Vegetarier oder Veganer geworden. Aber ist es bei Pflanzen nicht ganz anders? Schließlich können wir, ohne sie zu essen, nicht überleben.
Schlanger: Es ist eine Balance. Einerseits brauchen wir Pflanzen zum Essen, um unsere Kleidung herzustellen, um unsere Häuser zu bauen. Aber für mich gibt es einen Unterschied, ob wir auf respektvolle, zurückhaltende und auf Gegenseitigkeit beruhende Art und Weise mit der Pflanzenwelt interagieren. Oder ob wir Pflanzen hauptsächlich als Ressourcen betrachten, die es auszubeuten gilt. Wenn man sich auf die unglaublich kreativen, präzisen und spontanen Dinge einlässt, die Pflanzen jeden Tag tun, wird es schwieriger, sie nur als Objekte zu sehen. Die Interaktion mit Pflanzen dagegen als eine Interaktion mit Subjekten zu verstehen, ist eine sehr alte Idee, die ihren Ursprung in vielen indigenen Philosophien hat.
taz: Heute erleben indigene Denkweisen eine Renaissance, dabei haben europäische Nationen indigene Völker jahrhundertelang ausgelöscht, kolonisiert und verfolgt. Woher kommt dieser Sinneswandel?
Schlanger: Wir im globalen Norden schauen durch die Brille der westlichen Wissenschaft auf die Welt. Wir entscheiden mit ihrer Hilfe was wahr ist und was unwahr. Jetzt befinden wir uns an dem interessanten Punkt, an dem unsere Version der Wissenschaft einige der grundlegenden Annahmen der indigenen Wissenschaft und der indigenen Kosmologie bestätigt. Einschließlich der Idee, dass Pflanzen potenziell intelligente Subjekte sind. Mich erinnert das daran, dass sich unsere Werte und Perspektiven immer weiterentwickeln, so wie sie es auch in der Vergangenheit schon getan haben.
taz: Haben Sie ein bestimmtes Beispiel im Kopf?
Schlanger: Nehmen Sie Hunde. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren Vivisektionen, also Operationen ohne Betäubung am lebenden Hund an den medizinischen Fakultäten gängige Praxis. Wissenschaftler:innen dachten einfach, dass Hunde keine Schmerzen empfinden können.
taz: Wow.
Schlanger: Es gab ein starkes Gefühl, dass Hunde nur komplexe Maschinen seien und dass jede Art von Reaktion, sagen wir ein Bellen, nur ein Reflex sei und kein echter Ausdruck von Schmerz. Nur Menschen hätten die Fähigkeit für diese höheren Empfindungen.
taz: Wie kamen wir dann zu der Erkenntnis, dass Hunde auch Schmerz empfinden?
Schlanger: Die Wissenschaft verabschiedete sich von Vivisektionen und erließ strengere Vorschriften für Tierversuche. Aber nicht wegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern weil Tierschützer unsere gesellschaftliche Sicht auf das Thema verändert haben. Vivisektionen wurden geächtet. Die westliche Wissenschaft hat klare Stärken, aber sie ist kein allmächtiges Erkenntnisinstrument. Im Umgang mit der Subjektivität lebender Organismen ist es oft nicht die Wissenschaft, sondern die Kultur, die uns den Anstoß gibt, sie neu zu denken.
taz: Wenn wir die Idee der pflanzlichen Subjektivität ernst nehmen würden, wie würde das unsere Gesellschaften verändern?
Schlanger: Es könnte vieles verändern, beispielsweise im Recht. Bereits jetzt forschen und klagen viele Jurist:innen zu der Frage, ob Pflanzen und andere Akteure des Ökosystems nicht auch als juristische Personen angesehen werden sollten. Schiffe und Unternehmen haben dieses Recht vor Gericht schon lange. Warum also nicht ein Wald oder ein Fluss?
taz: Was wären denn die konkreten Auswirkungen einer solchen Veränderung?
Schlanger: Einen Mangrovenwald zu vernichten, um ein Küstenhotel zu errichten, könnte schwieriger werden. Gleichzeitig warne ich davor, zu viel von einem solchen Recht zu erwarten. Die Tierrechtsbewegung ist seit Jahrhunderten aktiv und Wissenschaftler:innen haben in Hunderten Studien die Intelligenz und exquisiten Fähigkeiten von Tieren, ihre Welt wahrzunehmen, dokumentiert. Aber die Ausbeutung der Tiere geht weiter. Es ist ein langer Weg. Aber Respekt ist keine endliche Ressource.
taz: Nachdem Sie jahrelang zu Pflanzen geforscht und ein Buch dazu veröffentlicht haben, berichten Sie nun wieder über den Klimawandel. Hat das Schreiben Ihres Buches Ihren Klimajournalismus verändert?
Schlanger: Auf jeden Fall. Ich fühle die materielle Realität, die wir zu verlieren haben, viel direkter. Jede Pflanze ist die letzte in ihrer Linie, das Ergebnis von Millionen von Jahren Evolution und biologischer Kreativität. Es ist eine großen Schande, auch nur eine einzige von ihnen zu verlieren.
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