Wissenschaftlerin zu Religionsunterricht: „Es fehlt ein Alternativfach“
In Hamburg gibt es für Schüler bis Klasse 6 nur das Fach Religion. Für konfessionsfreie Kinder sei das diskriminierend, sagt Kerstin Michalik.
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taz: Frau Michalik, was gefällt Ihnen nicht am Hamburger 'Religionsunterricht für alle ’ ?
Kerstin Michalik: 'Religionsunterricht für alle’ vertritt den Anspruch, für alle Kinder zu sein, ungeachtet ihres religiösen oder nicht-religiösen Hintergrunds. Tatsächlich ist er aber durch religiöse Bekenntnisse und Vorstellungen bestimmt. Das diskriminiert die vielen konfessionsfreien Kinder – das sind an Grundschulen über 60 Prozent.
Religionen kennenzulernen schadet Kindern doch nicht?
Stimmt. Nur ist dies kein Unterricht, der über Religionen informiert, sondern er ist dezidiert bekenntnisorientiert und verfolgt das Ziel, die religiöse Identität der Kinder zu stärken. Er wird auch nur von den beteiligten Religionsgemeinschaften verantwortet, also zum Beispiel den christlichen, den islamischen und der jüdischen Gemeinde. Säkulare Träger oder auch Hindu und Buddhisten sind gar nicht beteiligt.
Ist das für nicht-gläubige Kinder eine Belastung?
Das ist schwer zu beurteilen. Aber so, wie die Regelanforderungen formuliert sind, setzt er schon ein religiöses Bekenntnis voraus. Der Unterricht findet auch zu 50 Prozent nach Religionen getrennt statt, wo die Kinder sich mit ihrer religiösen Tradition befassen. Hier müssen sich die konfessionsfreien Kinder einer Religion zuordnen.
Ist dieses Konzept neu?
Ja, seit diesem Schuljahr. 'Religionsunterricht für alle’ wurde früher von der evangelischen Kirche verantwortet. Damals ging es auch um andere Religionen, aber in einem eher religionskundlichen Sinn. Das ist heute anders. Das Problem ist: Konfessionsfreie Kinder können zwar abgemeldet werden. Aber das passiert selten, weil ein Alternativfach fehlt. In anderen Ländern gibt es alternativ 'Ethik’ oder 'Philosophieren mit Kindern’. Nur in Hamburg und dem Saarland nicht.
Warum nicht?
Es heißt, 'Religionsunterricht für alle’ sei für alle wertvoll und gut. Aber Kinder, die nicht teilnehmen, sitzen irgendwo im Gruppenraum. Und die Eltern erfahren kaum von ihrem Recht, die Kinder abzumelden. Auf der Website der Behörde heißt es nur, dass es von Klasse 1 bis 6 Religionsunterricht gibt. Erst ab der 7. kann man wählen.
Diskussionsveranstaltung „Hamburger Religionsunterricht (Kl. 1–6) ohne Alternative?“ mit Hartmut Kreß: Mi, 29. 3., 18 Uhr, Hamburg, Curiohaus, Rothenbaumchaussee 15
Gab es vorab Kritik an dem neuen Konzept?
Ja. Es gab eine Pilotstudie, dort haben sogar Religionsdidaktiker gewarnt, dass konfessionsfreie Kinder benachteiligt sind. Trotzdem blieb die Konzeption so. Und es gibt neue Voraussetzungen für Lehrkräfte. Sie müssen Mitglied in einer der Religionsgemeinschaft sein und von dieser berufen werden. Weil es solche Lehrkräfte kaum gibt, hat die Nordkirche im letzten Jahr darauf verzichtet.
Was schlagen Sie vor?
Wir als 'Arbeitskreis Religion und Philosophie der GEW’ fordern ein Alternativ-Fach. Regelmäßige philosophische Gespräche fördern sehr stark die kognitive und die sprachliche Entwicklung der Kinder und auch die sozialen Kompetenzen. Sie tragen dazu bei, dass Kinder lernen, anderen zuhören, Gespräche zu führen und Gedanken anderer zu verstehen.
Über was für Fragen philosophieren Kindern gern?
Was ist Freundschaft oder was ist Gerechtigkeit? Was kommt nach dem Tod? Was macht gerechtes Handeln aus? Gehört der Mensch zur Natur?
Was tut Ihr Arbeitskreis, um Gehör zu finden?
Wir informieren und laden den Ethiker Hartmut Kreß von der Uni Bonn zum Vortrag ein: 'Hamburger Religionsunterricht (Kl. 1–6) ohne Alternative?’. Konfessionsfreie Kinder haben sechs Jahre Religion. Dabei ist Philosophie mit Kindern großartig. Die Kinder werden sogar besser in Mathe.
Dann muss doch der Schulsenator dafür sein.
Das denken wir auch.
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