Wissenschaftler über Täterkinder: „Gegen das Schweigen“
Täterkinder und -enkel kommen in dem neuen Buch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ebenso zu Wort wie Wissenschaftler. Das ist eine fruchtbare Kombination.
taz: Herr von Wrochem, es gibt schon etliche Bücher über NS-Täterkinder und -enkel. Was bietet Ihr Band Neues?
Oliver von Wrochem: Eine Kombination wissenschaftlicher und lebensgeschichtlicher Zugänge. Normalerweise treffen sich diese beiden Gruppen nicht. Aber auf zwei Tagungen in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, deren Resultate in das Buch eingingen, trafen sich beide Menschengruppen und lernten voneinander.
Inwiefern?
Jede Gruppe meinte, die andere hätte einen blinden Fleck. Die Täternachfahren fanden, die Wissenschaftler vernachlässigten den familienhistorischen Aspekt. Die Forscher wiederum sagten, man solle die Familiengeschichte nicht zu stark betonen, da es viele andere Faktoren gebe – politische wie kulturelle.
Ihr Band enthält neben wissenschaftlichen Aufsätzen Berichte von Täternachfahren. Wonach haben Sie sie ausgewählt?
Sie stammen überwiegend von Menschen, die unsere halbjährlichen Seminare „Ein Täter in der Familie?“ besucht haben. Viele kamen mehrfach und fragten sich irgendwann: Wie kann ich mit dem, was ich recherchiert und herausgefunden habe, Vorbild für andere sein? Wie kann ich sie ermutigen, trotz aller Widerstände diesen Weg zu gehen? Es entstand das Bedürfnis, eigene Erfahrungen mitzuteilen und ein öffentliches Zeichen zu setzen gegen die immer noch schweigende Mehrheit, die sich der eigenen Familiengeschichte nicht stellt.
47, Historiker und Germanist, leitet das Studienzentrum der KZ Gedenkstätte Neuengamme.
Sprechen Täterenkel generell offener als Täterkinder?
Im Allgemeinen ja. Die Enkel haben einen größeren Abstand zur Erlebnisgeneration, die an Verbrechen beteiligt war oder sie unterstützte. Zwar gibt es auch in der Kindergeneration einige, die ihren Eltern gegenüber sehr schonungslos sind. Aber meist haben erst die Enkel genug emotionale Distanz, um den Mythos vom unschuldigen Großvater weder fortzuführen noch wütend zu zerstören. Deshalb können die Enkel ihre Großeltern oft eher in ihrer Widersprüchlichkeit sehen und weniger hart verurteilend oder verteidigend wahrnehmen.
Sie haben auch die Nachkommen des SS-Manns Martin Weiß interviewt. Wie kam das?
Sie kamen in eines unserer Seminare. Martin Weiß war Kommandant der KZ Neuengamme, Dachau und Majdanek war und in der SS eine recht steile Karriere machte. Da stellen sich für die Nachfahren und ihre Ehepartner natürlich Fragen: Behalten wir das weiter für uns oder gehen wir damit an die Öffentlichkeit?
Herrn Weiß‘ Sohn und dessen Frau haben es gewagt.
Ja, ich habe sie im Buch porträtiert und für die Film-DVD interviewt, wodurch sie zu öffentlichen Figuren werden. Sie kommen vielleicht in die Presse. Das sind Dinge, vor denen sie vorher geschützt waren, weil sie nicht öffentlich darüber sprachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen